Klimawandel Der Winter war warm und verregnet. Skifahren bis ins Frühjahr hinein – damit könnte es bald vorbei sein. Ein Skigebiet in der Schweiz beugt vor: mit Kunstschnee, Pistenraupen und Folien am Gletscher: Trotz und Wasser
aus Engelberg Bigna Fink
Es gibt eine Szene im Bollywood-Film „Chori Chori Chupke Chupke“, deutsch: „Das Liebesdreieck“, da tanzen Frau und Mann auf einem Berg kurzärmlig durch den Schnee. Dann fliegen sie, in einem Helikopter aneinandergeschmiegt, über die Alpen.
Man hat einen ganz ähnlichen Blick über die Berge wie von diesem Hubschrauber aus, wenn man die Achtergondel im Skigebiet Titlis-Engelberg in der Zentralschweiz besteigt. Es ist eine rotierende Luftseilbahn, deren Kabine sich während der Fahrt dreht.
Indische Touristen fahren gern mit der Bahn. Die Fahrt mit der Gondel auf die Bergstation des Titlis in 3.020 Meter Höhe gehört für sie zu den beliebtesten Reiseaktivitäten in der bei Bollywood-Fans ohnehin populären Schweiz. Sie gehört zu den Drehorten vieler Filme.
Die indischen Touristen sind nur eine große unter mehreren Zielgruppen; auch bei vielen anderen asiatischen Gästen und bei Wintersportlern aus Europa ist die Gegend beliebt. Der Wintertourismus ist für das Bergdorf Engelberg ein gutes Geschäft. Entsprechend groß ist die Investitionsbereitschaft von Unternehmen wie den Titlis-Bergbahnen.
Die Frage ist: Wie lange noch kann Engelberg so gut vom Wintertourismus leben? Was, wenn die Gletscher weiter schmelzen und es irgendwann keinen Schnee mehr geben sollte?
Noch dauert die Frühjahrssaison für die Wintersportler, die in den hochalpinen Skigebieten in diesen Tagen beginnt, bis weit in den Mai. Die Pisten oberhalb von Engelberg liegen höher als 1.800 Meter, es gibt einen Skilift auf dem Gletscher des 3.238 Meter hohen Titlis. Daher wirbt das Skigebiet nahe Luzern und dem Vierwaldstätter See mit einer langen Skisaison.
Doch Skifahren bis ins späte Frühjahr – damit wird es in wenigen Jahrzehnten wohl vorbei sein. Der Gletscher schmilzt. Auch dieser Winter war wieder warm.
„Wir hatten den zweitwärmsten Winter seit der Wetteraufzeichnung“, sagt Christoph Marty. Er ist Schneeklimatologe am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos, dem bekannten Skiort im Schweizer Kanton Graubünden. Seit Beginn der Wetteraufzeichnung war nur die Skisaison 2006/2007 wärmer. Der zurückliegende Winter war etwa zwei Grad wärmer als im alpinen Durchschnitt. Schneeforscher Marty prophezeit: Ein derart milder Winter wird in 50 Jahren Normalität sein. Hinzu kommen Ausreißerwinter, in denen die Temperaturen nochmals um zwei Grad höher liegen.
Von 500 auf 1.200 Meter
Es gibt wohl kaum einen offensichtlicheren Indikator für den Klimawandel als Schnee. Das poröse Material aus Eis und Luft reagiert äußerst empfindlich auf die Klimaveränderung. So verschiebt sich seit Jahren in den Alpen die Schneegrenze nach oben: Im März vor 50 Jahren befand sie sich noch auf 500 Metern, heute liegt sie auf 1.200 Meter Höhe.
Auch am Gletscher am Titlis-Gipfel zeigt sich der Klimawandel deutlich. Es ist ein recht kleiner Gletscher mit seinen 0,9 Quadratkilometern Eisfläche. Der berühmte Aletschgletscher im Schweizer Kanton Wallis etwa war – Stand 2010 – 78,2 Quadratkilometer groß. Seit Beginn des Bergtourismus in Engelberg vor 102 Jahren sei der Titlis-Gletscher um ein Drittel zurückgegangen, sagt Peter Reinle, der stellvertretende Geschäftsführer der Titlis-Bergbahnen. Gletscher, diese Massen an ewigem Eis, sind für Glaziologen Fieberthermometer des Klimas. Sie reagieren stark auf Veränderungen in Niederschlag, Temperatur und Sonneneinstrahlung.
Andreas Bauder ist Glaziologe, also Gletscherforscher, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Er geht davon aus, dass der Titlis-Gletscher die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht übersteht.
Es gibt Anzeichen dafür: Die Masten des Skilifts auf dem Gletscher etwa müssen mehrmals im Jahr um einige Zentimeter nach oben verschoben werden. „Aber man muss relativieren“, sagt Peter Reinle, der Bergbahnbetreiber. „Die Winter sind nicht immer gleich. Schon in den 1940er und 50er Jahren lag ganze Winter kein Schnee im Skigebiet. Doch dass sich in dem Gebiet das Klima erheblich verändert, ist schon offensichtlich. Dafür ist der Gletscher der beste Beweis.“
Sein Unternehmen, eine Aktiengesellschaft, versucht, den Gletscher – dieses wertvolle Kapital – so lange wie möglich zu erhalten. Im Sommer spannt es Folien auf die Enden des Gletschers, um das Schmelzen zu verzögern. Verzögern, nicht verhindern. „Verhindern kann dieses aufwendige Verfahren den Rückgang des Eises nicht“, sagt der Glaziologe Bauder. Ob der Rückgang auch damit zu tun hat, dass im Winter Skifahrer auf dem Gletscher unterwegs sind, weiß der Forscher nicht. „Es gibt kaum Studien darüber, ob Gletscher stärker schmelzen, wenn ihre Oberfläche, etwa durch Skipisten, bearbeitet wird.“
Was man weiß, ist: Noch läuft der Wintertourismus gut. Es gibt 1,1 Millionen Bergtouristen pro Jahr. Mehr und mehr Besucher kommen aus Asien: China, Japan, Korea und vor allem Indien. Sie fahren mit der brandneuen, 60 Millionen Schweizer Franken teuren Achtergondel bis auf die Zwischenstation und dann weiter mit der weltweit ersten rotierenden Luftseilbahn auf die Gipfelstation. Man wirbt mit der Sicht auf Gletscherspalten, dem Besuch einer Gletschergrotte und dem Panoramablick auf weite Teile der Alpen. 89 Schweizer Franken kostet das Ticket hoch zum Gletscher und wieder runter, knapp 81 Euro.
Das Erlebnis ist vielen Gästen das Geld wert. Oben, auf der Bergstation, zücken asiatische Touristen Selfie-Stangen, und manche werfen den ersten Schneeball ihres Lebens. Es gibt ein Gipfelkaufhaus, in dem Uhren für bis zu 167.000 Schweizer Franken in den Vitrinen liegen. Das Restaurant bietet eine indische Menükarte. In einem Fotostudio können sich indische Familien in Schweizer Trachten und mit Alpenhorn vor Alpenkulisse fotografieren lassen. Beliebt als Fotomotiv sind auch echte Skifahrer.
Die Wintersportler können vom Gipfel aus 12 Kilometer bis ins Tal fahren. Und sie sind ähnlich anspruchsvoll wie die Gletschertouristen. Während sie in den 1970ern, in der Hochzeit des Skitourismus, unbekümmert um Steine herumfuhren, erwarten sie heute perfekte Pisten.
Roger Gasser ist einer der Fahrer der neuesten Pistenraupenmodelle, die die Bergbahn AG angeschafft hat. Sein Pistenbully kostete im vorigen Jahr knapp 500.000 Franken, etwa 456.000 Euro. Zum Vergleich: Ein neues durchschnittliches Müllauto der Berliner Stadtreinigung kostet etwa 220.000 Euro.
Eine Nacht im März. An die Scheinwerfer der Pistenraupe fliegen Schneeflocken. Von 17 Uhr, wenn die Sessellifte und Gondeln stillstehen, bis 4 Uhr morgens bearbeiten Gasser und seine sieben Kcholläge – „Kollegen“ auf Schweizerdeutsch – die Pisten des Skigebiets.
Gasser ist in einem Nachbartal von Engelberg aufgewachsen. Im Sommer ist er Lkw-Fahrer. Nun sitzt er im Blaumannanzug in dem breiträumigen Cockpit der Raupe und steuert mit einem Joystick die Fräse, die sich am Heck des 12-Tonnen-Kolosses befindet. Sie soll den Schnee zerkleinern, den die Frontschaufel auf die Piste getragen hat, und die Skipiste glatt planieren. „All den Schnee, den die Skifahrer und Snowboarder am Tag zur Seite schieben, hole ich wieder rein“, sagt Gasser.
Er sei froh, sagt er, dass es nun endlich etwas kälter wurde und mehr Schnee fällt – nicht untypisch für den März in den Alpen. Die vergangenen Wochen war er hauptsächlich damit beschäftigt, den wenigen Schnee so zu präparieren, dass keine Steine herausgucken.
Der Bildschirm mit den bunten Grafiken neben Lenkrad und Joystick ähnelt einem Navi. Es ist ein Schneetiefenmesser, der dem Raupenfahrer per GPS und Bodenradar anzeigt, wie viel Schnee auf der vor ihm liegenden Piste liegt. Rote Flecken bedeuten 20 Zentimeter Schnee, grüne 80 Zentimeter, und 3 Meter Schnee werden als braune Flecken dargestellt.
In dieser Nacht ist viel Rot zu sehen.
Was Gasser Sorgen bereitet, ist der viele Regen in dieser Saison, der auch in höheren Lagen fällt.
Der Klimawandel bringt mehr Niederschlag mit sich, in den Tropen, aber auch in den Alpen, sagt der Schneeklimatologe Christoph Marty. „Das ist einfache Physik: Wärmere Luft kann mehr Wasser aufnehmen.“ Im Winter seien allerdings, anders als im Sommer, derzeit noch nicht mehr Niederschläge zu verzeichnen. „Es gibt jährliche Schwankungen, seit jeher. Mal sind die Winter trocken, mal nass.“ Und dieser Winter war regnerisch.
Peter Reinle war 20 Jahre lang Skilehrer am Titlis, nun ist er stellvertretender Geschäftsführer der Bergbahnen-AG. „Ich bin mir sicher, dass in 100 Jahren noch genügend Schnee liegt, um die Pisten zu erhalten. Wir werden sogar vermutlich mehr Schnee als früher haben, da es durch die Klimaerwärmung mehr Niederschläge gibt und es in höheren Lagen mehr schneit.“
Fakt ist: Der Niederschlag, der im Winter in den Bergen fällt, ist immer häufiger Regen statt Schnee. Und so wird es laut verschiedener Klimamodelle in Zukunft auf 2.500 bis 3.000 Metern mehr regnen. Was würde das für Tourismusunternehmen wie die Titlis-Bergbahnen bedeuten?
Die Geschäftsstelle im 4.000-Einwohner-Dorf Engelberg sieht so nüchtern aus wie eine Bankfiliale aus den Achtzigern. 420 Mitarbeiter hat das Unternehmen, und das ganze Dorf hängt von der Aktiengesellschaft ab, Engelberg ist der zweitgrößte Aktionär. „Ohne den Tourismus würden hier vielleicht noch 400 Menschen wohnen“, sagt Reinle. Obwohl das Skigebiet mit 82 Kilometern Piste nicht riesig ist, gehört die Titlis AG zu den fünf größten Bergbahn-Unternehmen der Schweiz. Die Gesellschaft trotzt dem Klimawandel, ihr geht es gut, sie schreibt schwarze Zahlen.
170 Lanzen, 30 Kanonen
Sie lässt es sich einiges kosten, dass der Wintersport auch in warmen Wintern wie diesem möglich ist: Für die künstliche Beschneiung hat die AG in den vergangenen zehn Jahren mehr als 20 Millionen Schweizer Franken ausgegeben, etwa die gleiche Summe ist für die kommenden Jahre vorgesehen. „Es findet sich kein Skigebiet mehr ohne technische Beschneiung“, sagt Peter Reinle.
170 Schneelanzen und 30 Schneekanonen sollen für befahrbare Pisten auch in schneearmen Wintern sorgen. Dazu kommen pro Saison drei Tonnen Sprengstoff für die Lawinensprengungen. Die Lawinengefahr sei allerdings in den letzten Jahrzehnten nicht größer geworden, sagt nicht nur Reinle, sondern auch der Schneeklimatologe Marty.
Reinle, der auch der Marketingleiter des Bergbahnunternehmens ist und damit nicht unbefangen, geht von einer eher geringen Umweltschädlichkeit dieser Wintersport-Verteidigungsgeschütze aus. „Den meisten Schnee gewinnen wir über Naturstrom, also Wasserkraft aus dem Stausee am Fuße des Skigebietes“, sagt er. „Das zu Schnee verarbeitete Wasser bleibt im Gebiet, es fließt einfach später den Berg hinunter.“ Wie viel des Klimawandels menschengemacht und wie viel einfach eine natürliche Erderwärmung ist, das sei eine philosophische Frage, sagt Reinle. „Ich denke, die Ursache liegt irgendwo in der Mitte.“
„Doch zum Glück haben wir hier einen Standortvorteil“, sagt Peter Reinle im Marketing-Sprech. „Das hochalpine Skigebiet Titlis liegt am Nordhang und ist nicht groß der Sonne ausgesetzt.“ Die Pisten liegen quasi im Schatten des Klimawandels, da hält sich der Schnee noch etwas länger.
Als die Winter noch Winter waren, in den 1970er Jahren, war das Skifahren als Urlaubsbeschäftigung der Hit. In den Alpen entstand eine Überkapazität an Skigebieten. Und heute? Seit Jahren würden im Titlis-Skigebiet die Besucherzahlen an Skifahrern und Snowboardern stagnieren, sagt der Bergbahnbetreiber Reinle. Der Schneeforscher Christoph Marty spricht dagegen von einem deutlichen Rückgang an Skifahrern in den Alpen. Immer mehr Skigebiete müssten schließen. Doch nur zu einem Teil habe das mit dem Klimawandel zu tun, sagt Marty.
Heute gebe es einfach eine breitere Palette an Urlaubsmöglichkeiten im Winter, etwa billige Flüge in Badeorte wie die Karibik. Und Skifahren sei noch nie ein günstiges Vergnügen gewesen. Doch sicher ist: Mit dem Klimawandel wird Skifahren exklusiver. Noch exklusiver und teurer, als es jetzt schon ist. Weniger Schnee, weniger Skigebiete, weniger Wintersportler.
Die Frage ist: Können Wintersportorte auch Sommerfrischeorte sein?
Von den 1,1 Millionen Bergtouristen im Engelberger Gebiet sind schon heute nur ein Drittel Wintersportler. Warum sollten die anderen nicht auch verstärkt im Juni oder im August anreisen? Im Bollywood-Film „Chori Chori Chupke Chupke“ jedenfalls singt das Pärchen nicht nur im Schnee. Schon im nächsten Bild tanzen Frau und Mann fröhlich über eine blumenreiche Alm. Schneekanonen brauchen sie nicht zum Glück.
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