Klimakrise im Hochgebirge: Das gar nicht so ewige Eis
In den Alpen ist die Klimakrise extrem sichtbar. André Baumeister zeigt Jugendlichen, wo Gletscher schmelzen – und was das mit uns zu tun hat.
Es geht steil bergauf. Wir keuchen unter dem Gewicht der riesigen Rucksäcke. Durch das menschenleere Hochgebirge führt der Weg vorbei an schroffen Felswänden. In der Ferne grummelt es bedrohlich, es bleibt keine Zeit für eine Pause. Wir müssen die Selbstversorgerhütte vor dem Gewitter erreichen. Eine Stunde zuvor haben die Strapazen – vielleicht auch in Kombination mit zu viel Kaiserschmarren – bereits ihr erstes Opfer gefordert. Ein Schüler musste sich übergeben und mit der Hilfe eines Lehrers wieder zum Basislager absteigen.
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Wir erreichen das rettende Schutzhaus. „Fidelitas Hütte“, steht auf einem Schild, das außen an der hellen Holzwand angebracht ist. „2883 Meter – erbaut 1896“. Im Inneren: eine Eckbank, ein Tisch, drei Stühle und Stockbetten. Es ist Platz für maximal zehn Menschen, in der Ecke steht ein weißer Holzofen zum Heizen und Kochen. Strom gibt es nicht, nur Kerzen. An der Wand hängt das Bild eines tief verschneiten Berges und – wie es sich im erzkatholischen Tirol gehört – ein Kreuz. Dann kommt, was der Donner angekündigt hat: Innerhalb weniger Minuten sind die umliegenden Berge nicht mehr zu sehen, beim Wasserholen peitschen uns dicke Regentropfen waagerecht ins Gesicht. Es gibt Tee und Nudeln mit Pesto. Die haben noch nie so gut geschmeckt wie in diesem Moment, da sind sich die Jugendlichen einig.
Sie sind Teil einer gut 50-köpfigen Gruppe aus 15- bis 19-jährigen Schüler:innen, ihren Lehrkräften und Wissenschaftler:innen. In den Ötztaler Alpen erforschen sie im Rahmen des ersten Alpine Climate Summit die Auswirkungen des Klimawandels. „Die Gletscher des Ötztals sind der perfekte Ort dafür. Nirgendwo sonst in Mitteleuropa kann man die Auswirkungen der Erderwärmung so deutlich sehen“, erklärt André Baumeister. Der Geograf und Exkursionsdidaktiker ist Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum und hatte die Idee zum Alpine Climate Summit, den er und seine Studierenden dieses Jahr erstmals durchführen – ehrenamtlich. Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern steigen sie in die Alpen und wollen so die Klimakrise greifbarer machen. Klimabildung ist auch durch das Aktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen in den Lehrplänen der Bundesländer verankert – für Baumeister ist sie eine Lebensaufgabe.
„Die Schüler sind die Entscheidungsträger von morgen und die Betroffenen des Klimawandels“, sagt er. Man müsse sie aber nicht nur für die Klimakrise sensibilisieren, sondern ihnen auch Zusammenhänge aufzeigen. Exkursionsdidaktik nimmt für ihn dabei eine zentrale Rolle ein. Am Beispiel der Almwirtschaft lasse sich der Begriff Nachhaltigkeit tatsächlich mit Inhalt füllen, und auch die Veränderung der Vegetation durch den Klimawandel sei in den Alpen deutlich zu sehen. Man könne mit den Schülern zwar auch auf einen Demeter-Hof fahren und nachhaltige Landwirtschaft erklären – dort sähen sie aber nicht ganz unmittelbar die Auswirkungen der Klimakrise. Dafür brauche man dann Graphen und Tabellen. Und die findet Baumeister nicht sehr greifbar. „Eine Exkursion in die Alpen erzeugt Erlebnisse. Dadurch können sich die Schüler Dinge viel besser merken als im Unterricht“, sagt er.
Das beste Symbol für den Klimawandel
Baumeisters Vorhaben ist wichtig: In der Schweiz und in Österreich war der Eisverlust in diesem Sommer extrem, manche Gletscher schmelzen so schnell wie nie zuvor. Fünf Gymnasien aus Nordrhein-Westfalen und Berlin nehmen an der Exkursion teil. „Piefkes“ würde man hier in Österreich zu den Schüler:innen sagen, denn Bergerfahrung besitzt keine:r von ihnen. Unterstützt wird das Projekt teilweise von Exkursionsfonds der Schulen. Einer der Lehrer habe auch bei Kommune und Land nach finanzieller Unterstützung gefragt, sogar eine Bundestagsabgeordnete habe sich daraufhin um das Projekt bemüht, jedoch leider ohne Erfolg.
Bei Tagesanbruch ist das Gewitter vorübergezogen. Die Jugendlichen stehen mit großen Augen vor dem Gurgler Ferner. Zwischen den von Schleierwolken gesäumten Gipfeln glänzt der drittgrößte Gletscher Tirols in der Morgensonne. Die Berge, die ihn umgeben, sind von roten, grünen und braunen Schichten durchzogen. Hier und da sieht man türkisblaue Teiche, die vom Schmelzwasser gespeist werden.
Bis ins Jahr 1850 hat Baumeister die Ausdehnung des Gletschers zurückverfolgt. „Es gibt kein besseres Symbol für den menschengemachten Klimawandel als Gletscher“, betont er, „denen kann man beim Schmelzen tatsächlich zuschauen.“ Anhand der glazialen Formen wie Grund-, Seiten- und Endmoräne erkennt er, wie groß der Gurgler Ferner einmal war. „Durch seine Bewegung hat der Gletscher das Gestein zerkleinert und aus dem Weg geräumt“, erklärt der Geologe. Unterhalb von uns liegen gelbliche Marmorblöcke: „Die stammen eigentlich aus dem angrenzenden Schneeberg-Komplex und können nur durch den Gletscher hierherverfrachtet worden sein.“
Die Schüler:innen werden jetzt selbst zu Forschenden und bekommen ein GPS-Gerät, um die heutige Ausprägung des Gurgler Ferners aufzuzeichnen. Das Eis knarrt und knackt dumpf unter ihren Füßen, als sie mit dem kleinen grauen Kasten in der Hand die zerklüftete Gletscherzunge entlangstapfen. Um sie herum gluckert und sprudelt es, überall fließt Wasser aus dem Eis.
Aus einiger Entfernung winkt Baumeister ihnen zu. „Hier war der Gletscher vor drei Jahren“, ruft er. 45 Meter ist er von dieser Stelle seitdem zurückgegangen. „Krass, wie viel in so kurzer Zeit geschmolzen ist“, sagt Nick, einer der Schüler. An der Front ist der vermessene Seitenarm des Gletschers in den letzten fünf Jahren sogar um 120 Meter zurückgegangen. Das könne man sich gar nicht vorstellen, findet Nick. Aber hier vor Ort immer noch viel besser als im normalen Unterricht. Der Abstieg führt über einen Kamm aus Geröll. Luisa fragt, ob wir uns jetzt auf der Seitenmoräne befinden. „Genau, gut erkannt“, lobt Baumeister. Links geht es rund 100 Meter steil bergab bis zum Talgrund. „Unglaublich, dass das alles vor 150 Jahren noch bis zu unseren Füßen mit Eis gefüllt war“, staunt Luisa.
Vegetationskartierung und Almwirtschaft
Zurück im Basislager, der Langtalereckhütte, erzählt Hüttenwirt Georg Gufler aus seiner Kindheit. Er ist 45 Jahre alt und hier aufgewachsen. „Vor 40 Jahren konnte man den Gurgler Ferner von der Hütte aus noch gut sehen. 200 Höhenmeter sind seitdem abgeschmolzen.“ Er zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. Darauf ist die Langtalereckhütte zu sehen und unter ihr eine gewaltige, zerfurchte Eismasse. „Das war 1932, da ging der Gletscher noch bis zur Hütte.“ Heute liegt er etwa drei Kilometer weiter hinten.
Am nächsten Tag geht es hoch auf den Berg, diesmal auf das 3.233 Meter hohe Eiskögele. Unterwegs führen die Jugendlichen ihre Vegetationskartierung fort, die sie vor dem Aufstieg ins Hochgebirge begonnen haben. Mit Stift und Papier notieren sie, welche Pflanzen auf welcher Höhe zu finden sind. Am Wegesrand wächst ein wild verzweigter grüner Strauch mit rosa Blüten. Lea erkennt das Gewächs: „Das ist eine Rostblättrige Alpenrose, eine Zeigerpflanze des Klimas.“ Mit zunehmender Erderwärmung findet man sie in immer größerer Höhe, weil die Höhenstufen der Vegetation weiter nach oben wandern. Neben der Gletscherschmelze ist diese Verschiebung der Pflanzenwelt Richtung Gipfel die deutlichste Veränderung durch den Klimawandel in den Alpen.
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Neben der Schülergruppe klettert eine Schafherde leichtfüßig den Berg hinauf. Diese Form der Landwirtschaft, die Almwirtschaft, haben die Schüler bereits kennengelernt. Auf der Gleirschalm hat Baumeister ihnen einen Tag vorm Aufbruch ins Hochgebirge gezeigt, wie nachhaltige Almwirtschaft funktioniert. Die Kühe grasen den Sommer über wechselnde Almwiesen ab, anstatt im Stall mit extra für sie angebauter Nahrung gefüttert zu werden. Dadurch werden die Böden nicht ausgelaugt und sogar die Artenvielfalt auf den Almwiesen erhöht. „Almwirtschaft findet innerhalb der Grenzen der nachhaltig zur Verfügung stehenden Ressourcen statt.“ Da so aber nicht alle Menschen täglich mit Fleisch versorgt werden können, müsse man auch mal darauf verzichten. „In Zukunft werde ich zweimal überlegen, ob ich etwas wirklich brauche beziehungsweise ob es eine klimafreundlichere Alternative gibt“, nimmt sich Hugo vor.
Zurück im Forschungszentrum der Universität Innsbruck in Obergurgl reflektieren die Schüler über die Erlebnisse der vergangenen Woche. „In der kurzen Zeit hier habe ich mehr über Nachhaltigkeit und den Klimawandel gelernt als in mehreren Wochen Unterricht“, sagt Timo. Auch Nick findet es „viel effektiver, so etwas praktisch vor Ort zu erleben“, und Luisa geht es ähnlich, „weil man hier mit eigenen Augen sehen kann, was der Klimawandel bewirkt. Das macht es einem sehr bewusst.“ Sie habe dabei auch gelernt, wie wichtig die Kommunikation des Klimawandels sei, damit mehr Menschen das Problem begreifen. „Deswegen wollen wir das Projekt auch den anderen Schülern unserer Schule präsentieren“, sagt Hugo. Die Schüler wollen weitergeben, was sie gelernt haben. „Wir müssen alle überlegen, was wir dazu beitragen können, dass sich die Situation nicht weiter verschlimmert“, sagt Nick.
André Baumeister ist stolz, dass die Jugendlichen die Message verstanden haben. Für das nächste Jahr ist wieder ein Alpine Climate Summit geplant, für den er weiterhin nach Unterstützern sucht.
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