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Klempner sein und Vater werden

„Grinsen und die schlechten Zähne zeigen“: Am Kottbusser Tor hat das Obdachlosentheater Ratten 07 ein Open-Air-Fotostudio eingerichtet, in dem sich Passanten ihre eigene Wahlfamilie für ein Gruppenbild zusammenstellen können

Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen. Dieser Umstand gehört zu den fatalen Gemeinheiten des Daseins. 75 Prozent aller Mordfälle werden in der Familie begangen, sagen Kriminalstatistiken. Das ist die traurige Konsequenz aus dieser Unfreiwilligkeit. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis staatliche Institutionen endlich reagieren würden.

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) haben jetzt Postkarten drucken lassen mit dem Aufruf: „Fuck your family, make a new one“. Damit diese hübsche politische Botschaft auch in der breiten Bevölkerung ankommt, verteilen derzeit Obdachlose vom Volksbühnen-Obdachlosentheater Ratten 07 die Postkarten am Kottbusser Tor. Zudem haben die Aktivisten der NGBK und der Ratten 07 dort vor dem Hochhauskomplex gestern ein Fotostudio aufgebaut. In diesem „Familienstudio Kotti“, wie es auf einem Pappschild heißt, können auch heute neue Verwandtschaftskonstellationen zwischen zufälligen Passanten ausprobiert werden. Vor gemalten Palmenlandschaften oder Kaminzimmerkulissen soll sich das Kreuzberger Publikum selbst zu temporären Familien aufstellen und von einer Fotografin ablichten lassen, die Praxis des „make a new familiy“ lässt sich also als schönes Gruppenbild mit türkischen Imbissbesitzern, fremden Malerbrigaden oder irgendwelchen Busfahrern erproben.

Als gestern die Aktion begann, dauerte es allerdings ein wenig, bis sich die ersten Freiwilligen zum Fotografieren einfanden. „Ein Kreuzberger geht doch nicht vor zwölf Uhr vor die Tür“, knurrte Gerd von den Ratten. „Das Wetter ist schön, da muss der Kreuzberger vor den Fernseher“, meinte auch ein anderes Rattenmitglied. Um die Wartezeit totzuschlagen, hatten sie vorsorglich Bierdosen mitgebracht.

Bald hieß es jedoch nur noch „grinsen und die schlechten Zähne zeigen“, wie Gerd wieder und wieder das Geschehen kommentierte: Immer mehr mexikanische Studentinnen, räudige Handwerker, schwänzende Schulkinder und türkische Mütter mit Kinderwagen posierten schüchtern kichernd vor den Stellwänden. „Sin wa nich alle Kinder?“, erklärte Gerd das Geschubse. Menschen mit melancholischem Gesichtsausdruck bekamen einen Schluck aus der Bierdose angeboten.

So geriet die Fotoaktion zu einem entspannten Ausflug für alle Beteiligten. Zwischendurch tollte Gerd ein wenig mit den Hunden auf dem Betonplatz umher, eine Punkerin sagte: „Da hinten ist gerade ein Junkie umgefallen“, eine NGBK-Frau zündete sich eine Zigarette an, die Sonne kroch hinter dem Hochhaus hervor. Man selbst dachte, wie praktisch es wäre, mit einem Klempner verwandt zu sein.

Abzüge der Fotos können später von den Beteiligten in der NGBK abgeholt werden. Außerdem werden die Familienbilder in der Volksbühne ausgestellt, verschiedene Kreuzberger Fotogeschäfte werden die Zufallsverwandtschaften in ihre Schaufenster hängen. KIRSTEN KÜPPERS

„Fotostudio Kotti“ heute noch zwischen 12 und 17 Uhr vor dem Zentrum Kreuzberg, Adalbertstraße 3

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