Klassiker des Feminismus: Simone, wo bist du?
„Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir gilt als Klassiker des Feminismus. Heute wird immer nur ein Satz zitiert – und das auch noch falsch.
Sie ist nicht da. Das ist das Erste, was auffällt, wenn man sich mit Simone de Beauvoir beschäftigt. Wer heute in Berlin Philosophie studiert, kann das 17 Semester lang tun, ohne einem einzigen Text von Simone de Beauvoir zu begegnen. Auch außerhalb der Uni kommt man, auch als Feministin, selten mit Beauvoir in Berührung. Simone de Beauvoir fehlt. Unentschuldigt.
Alles, was da ist, ist dieser eine Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt …“ – und weiter? „… man wird es.“ Das berühmteste Zitat aus Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ ist ein Satz, der komisch klingt. „Man wird es“, was soll das heißen? Und weil der Satz so merkwürdig klingt, wird er gern anders beendet: „… man wird dazu gemacht“. Im französischen Original von 1949 schrieb Beauvoir: „On ne naît pas femme : on le devient.“ Das Verb devenir = werden wird in der falschen Übersetzung aus einem aktiven „werden“ zu einem passiven „gemacht werden“. Ein ziemlicher Unterschied.
Es ist nicht schön und wenig würdevoll, wenn der einzige Satz, mit dem eine Autorin immer wieder zitiert wird, auch noch falsch wiedergegeben wird. Es ist, als würde man Tucholsky zitieren mit den Worten „Was darf Satire? Och ja, dies und das.“
Im April wird das Buch „Pink stinkt“ erscheinen, von Stevie Meriel Schmiedel, der Gründerin von Pinkstinks Germany. Vermutlich ein großartiges Buch. Es geht darin um neue Rollenbilder für Mädchen, auf der Titelseite steht: „Mädchen werden nicht rosa geboren. Sie werden rosa gemacht.“ Das klingt gut und soll an Beauvoir erinnern, ist aber ausgerechnet an die falsche Übersetzung angelehnt: an diejenige, die suggeriert, all das Übel, das Mädchen und Frauen geschieht, komme von außen, und alles wäre besser, wenn die armen Dinger sich nur irgendwie wehren könnten.
„Halb Opfer, halb Mitschuldige“
Aber so einfach ist es bei Beauvoir nicht (und so einfach ist es bei den allermeisten Feministinnen und sicher auch bei Stevie Schmiedel nicht). Dass „Das andere Geschlecht“ bisweilen so gelesen wird, als wäre die Frau bloßes Opfer ihrer Situation, liegt wohl an Beauvoirs eindrücklicher Beschreibung ihrer Unterworfenheit. Doch nicht ohne Grund stellt Beauvoir dem zweiten Band ihres Buches ein Zitat von Sartre voran: „Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle.“ Beauvoir hält die Frau generell für mitverantwortlich für ihre Situation – eine Ambivalenz, die nicht nur eine Befreiung vom Unterdrücker erfordert, sondern auch eine Trennung von der eigenen, erlernten Passivität.
Ein Jahr lang habe ich Texte von und über Beauvoir gelesen und meine Masterarbeit über „Das andere Geschlecht“ geschrieben. Ich hatte das Buch vorher schon mal gelesen, vor zehn Jahren, als ich ungefähr 17 war: kein großes Erleuchtungserlebnis. (Eigentlich las ich es nur, weil ich festgestellt hatte, dass Beauvoir genau an meinem Geburtstag gestorben ist.) Ich hatte damals Physik und Mathe als Leistungskurs und fand im Grunde die biologischen Beispiele am Anfang des Buches am interessantesten. Seepferdchenmänner, die Kinder austragen, und so. Am Ende merkte ich mir nur drei Dinge: Erstens: Der Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt …“ steht ziemlich genau in der Mitte. Zweitens: Taubeneltern füttern ihre Jungen mit einer Art Milch. Und drittens: Frauen haben im Mittelalter versucht zu verhüten, indem sie nach dem Sex niesten.
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Jetzt, zehn Jahre später, hab ich alles noch mal gelesen, vorwärts, rückwärts, Deutsch, Französisch, weil ich wissen wollte: Was kann man vom „Anderen Geschlecht“ heute noch lernen? Wie passt das mit heutigem Feminismus zusammen? Und vor allem: Was steht da eigentlich drin?
Was heißt Freiheit?
Beauvoir hat die grundlegenden Fragen gestellt, die FeministInnen heute noch beschäftigen: Was ist eine Frau? Wie sehr muss man definieren, was Frauen sind, um für ihre Freiheit zu kämpfen? Was heißt Freiheit? Wo kommt das Patriarchat her – und wie geht es wieder weg? Warum fällt es Menschen, die als Kind zu „typisch weiblichen“ Eigenschaften erzogen wurden, so schwer, sich davon später zu befreien? Welche Rolle spielt das Verhältnis zum eigenen Körper dabei? Warum und wie leiden auch Männer unter dem Patriarchat?
Beauvoirs Antworten auf diese Fragen wurden in alle möglichen Richtungen interpretiert. Mal wurde ihr Frauenhass vorgeworfen, mal Männerhass. Die einen fanden ihr Frauenbild zu biologisch geprägt und zu deterministisch. Andere, wie Judith Butler, fanden Beauvoirs Verknüpfung von Körper und Geschlechtsidentität zu willkürlich. Oft hieß es, Beauvoir habe die Sex/Gender-Unterscheidung eingeführt, also die zwischen körperlichem und sozialem Geschlecht. Seit den Neunzigern wird der Sinn dieser Trennung aber zunehmend bezweifelt, und seither heißt es auch, Beauvoirs Begriff der Frau sei eine Alternative zur Rede von „Sex“ und „Gender“.
Manchmal habe ich mir beim Lesen gewünscht, Beauvoir hätte einen schlechteren Schreibstil gehabt. Einen trockeneren, komplizierteren. Hätte sie den Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt …“ umständlicher ausgedrückt, wäre er vielleicht nicht so berühmt geworden und nicht so falsch verstanden worden. Hätte sie sich nicht so bildreich darüber aufgeregt, wie elendig schlecht es Mädchen geht, die ihre Tage bekommen und nicht verstehen, was mit ihrem Körper los ist, hätte man sie vielleicht nicht so schnell eine Frauenhasserin genannt. Die Frau, die die Spezies Mensch als „feindliches Element“ in sich trägt und ein Körper, der sich „zerfrisst“ aus Angst, Frau zu sein: keine schönen Bilder. Dazwischen verstörende Sätze wie diese: „Rosa Luxemburg war hässlich. Sie kam nie in Versuchung, der Verehrung ihres Bildes zu verfallen.“
Vielleicht war es auch Beauvoirs eigenartiger Humor, der ihr in der Rezeption zum Verhängnis wurde. Nach fast 900 Seiten Argumentation für Chancengleichheit und Gerechtigkeit schreibt sie: „Wir haben gesehen, dass trotz aller Legenden kein physiologisches Schicksal dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht als solchen ewige Feindschaft auferlegt. Sogar die berüchtigte Gottesanbeterin verschlingt ihr Männchen nur, wenn sie keine andere Nahrung hat oder um der Arterhaltung willen.“
Weder Feministin, noch Philosophin
Das Neue an Beauvoirs Buch war ihre These, dass es keine biologische, sondern eine soziale Tatsache ist, eine Frau zu sein. Das war 1949 eine Provokation – und ist es im Grunde heute noch. Weibliche Körpermerkmale zu haben bedeutet für Beauvoir erst mal gar nichts. Der Körper ist für sie zwar „Zugriff auf die Welt“, aber der Mensch kein vorbestimmtes Wesen, „sondern eines, das sich zu dem macht, was es ist“. Das gilt für Frauen und Männer gleichermaßen: „Es ist ebenso absurd, von ,der Frau im Allgemeinen‘ wie von ,dem ewiggleichen Mann‘ zu sprechen“. Und: „Es existiert keine scharfe biologische Trennung zwischen den Geschlechtern.“ Das sind Annahmen, die heute noch von vielen bezweifelt werden, obwohl es inzwischen weitaus mehr wissenschaftliche Belege für sie gibt als zu Beauvoirs Zeiten.
Es ist übrigens bemerkenswert, dass „Das andere Geschlecht“ oft als erstes Werk der feministischen Philosophie bezeichnet wird, Beauvoir es ihrem Selbstbild nach aber weder als Feministin noch als Philosophin geschrieben hat, ja eigentlich noch nicht einmal als Frau. Im ganzen Buch spricht sie von „den Frauen“ in der dritten Person Plural, benutzt als Beispiele stets andere Frauen und nie sich selbst. (Auf der ersten Seite schrieb sie: „In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen.“) Erst um 1970, rund 20 Jahre nach Erscheinen des Buchs, wechselte Beauvoir zum „Wir“, wenn sie über Frauen sprach, bezeichnete sich selbst als Feministin und wurde in der zweiten Welle der Frauenbewegung aktiv. Ihre Thesen aus dem „Anderen Geschlecht“ behielt sie bei. Als Philosophin betrachtete sie sich zeitlebens nicht, weil sie meinte, sie habe „kein großes System errichtet“.
Nein, ein System vielleicht nicht. Aber eine beeindruckende Untersuchung über viel mehr, als der eine Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt …“ vermuten lässt: Wie kommt Unterdrückung zustande und durch welche Mechanismen wirkt sie? Wie unterscheiden sich die Machtstrukturen, nach denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Klasse oder ihres Alters diskriminiert werden? Was heißt es, wenn Menschen sich zum Objekt machen? Inwiefern gehört Objektsein zum Menschsein dazu, und wann ist es schlecht? Was bedeutet es für Menschen, einen Körper zu haben?
Natürlich ist die Situation der Frauen heute eine deutlich andere als 1949, als „Das andere Geschlecht“ erschien. Die Ehe ist nicht mehr das „Schicksal, das die Gesellschaft für die Frau bereithält“, uneheliche Kinder sind kein „entsetzlicher Makel“ mehr, Verhütung und Abtreibung in vielen Ländern zugänglich und legal. Aber gerade die Tatsache, dass viele der Umstände, die Beauvoir beschreibt, sich geändert haben, scheint dafür zu sprechen, sie heute wieder zu lesen: denn all diese Umstände sah Beauvoir in einem Zusammenhang von Machtstrukturen, die in vielerlei Hinsicht heute noch weiterwirken – deren Effekte aber, je schwächer die dahinter liegenden Strukturen werden, oft gar nicht mehr als sexistisch wahrgenommen werden (und dementsprechend auch nicht bekämpft werden).
Ihrer Zeit weit voraus
Beauvoir heute zu lesen bedeutet, sich viel zu wundern. Einerseits war Beauvoir ihrer Zeit unglaublich weit voraus, als sie „Das andere Geschlecht“ schrieb. Sie hat gezeigt, dass man „die Frau“ nicht auf ein bestimmtes Wesen festlegen muss, um geschlechterspezifische Ungerechtigkeiten sehr genau zu analysieren. Andererseits lesen sich bestimmte Stellen, wie Beauvoirs Beschreibungen von Homosexualität, aus heutiger Sicht absurd. Menschen, die aus dem Muster von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit herausfallen, bleiben für sie Sonderfälle.
Irgendwie auch beruhigend zu sehen, dass Beauvoir zwar viele Themen und Standpunkte der heutigen feministischen Diskussion vorweggenommen hat – aber dann doch nicht alle.
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