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Klärchens Frikadellen

Boulette, Fleischpflanzerl, -kücherl, -klops – egal, Hauptsache innen saftig, außen knusprig und dazu Wirsing mit Salzkartoffeln. Und die Erinnerung an Muttern

von WOLFGANG SCHÖMEL

Das Klärchen war meine Mutter. Eigentlich hieß sie Klara Maria, aber alle nannten sie „das Klärchen“. Sie hatte sich aus Eppelborn im Saarland nach Bad Kreuznach an der Nahe wegheiraten lassen. Das ganze Dorf, die Eltern und alle zehn Geschwister waren gegen die Heirat, galt es doch in Eppelborn schon als problematisch, ins Nachbardorf zu heiraten. Das Klärchen ging im Krieg nach Neuruppin in Brandenburg. Es bekochte einen Pfarrershaushalt. Nach dem Krieg fuhr es mit dem Fahrrad und kalten Pellkartoffeln als Proviant nach Oberwesel am Mittelrhein, kochte dort „bei den Nonnen“, danach in Bad Kreuznach im Zentralhotel.

Gegenüber vom Hotel arbeitete mein Vater als Bäcker. Er war ein schöner Mann, sieben Jahre lang in Krieg und Gefangenschaft gewesen, die meiste Zeit in Italien, weshalb er am liebsten Nudeln aß. Frikadellen aß er von früher her gern. Das Klärchen konnte sehr gut Nudelgerichte machen und Frikadellen braten. Eines Tages lernte es den Bäcker kennen, und fortan kochte es als Ehefrau für ihn. Es ist überhaupt nicht glücklich geworden, das Klärchen, und recht jung gestorben.

Immer wenn ich als Student nach Bad Kreuznach zu den Eltern fuhr, fragte mich das Klärchen schon Tage vorher, was ich essen wolle, Kartoffelpfannkuchen oder Frikadellen. In beidem hatte das Klärchen eine unerreichte Meisterschaft entwickelt. Ich hatte den Fehler des Klärchens wiederholt und war zu seiner Verzweiflung weit weggegangen, nach Bremen. „Was willst du bloß da oben?“, jammerte es, „da ist es flach und kalt.“ Vor zwei Jahren fuhr ich wieder einmal nach Kreuznach. Ich wollte das Auto vor dem Elternhaus parken und ein wenig hinschauen. Inzwischen wohnten fremde Leute in dem Haus. Niemand wartete mit Frikadellen.

Zwischen Bretzenheim und Kreuznach, auf der Höhe des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers der Amerikaner, erwischte mich im Autoradio Bruce Springsteen mit „My hometown“. Es war um meine Fassung geschehen, und ich musste auf den Randstreifen fahren, um mich wieder einzukriegen. Von dieser Stelle aus kann man sehen, wie sich nördlich und südlich von Kreuznach Höhenzüge formieren, die nach Westen hin gleichsam vaginal zum Eingang des Nahetals zusammenlaufen. „Son, take a good look around, this is yououour hometown“, krähte ich verzweifelten Herzens, und die Tränen liefen die Wangen hinunter.

Mit neunzehn war ich von Kreuznach weggegangen. Ich war sehr langhaarig, sehr depressiv, sehr revolutionär und mehr oder weniger drogensüchtig. Ich hauste in einer maoistischen Sperrmüllwohngemeinschaft und aß Hühnereier von Aldi. Jahre später, ich hatte inzwischen eine eigene Wohnung, lebte in Norddeutschland, war kurzhaarig, depressiv und mehr oder weniger drogensüchtig, rief ich das Klärchen an und fragte, wie man Frikadellen macht. Vielleicht ahnte ich damals, dass es das Klärchen nicht mehr lange geben würde. Ich machte meine ersten ernsthaften Kochversuche. Das Klärchen gab mir in der Folgezeit regelmäßig Rezepte durch und fragte jedes Mal, wann ich wieder nach Hause käme. „Ich würd dir auch Frikadellen machen“, sagte es traurig.

Dem Klärchen war klar, dass meine durch seine Hilfe erworbenen Kochkünste meine Besuche noch seltener machten. Allerdings rief ich dafür häufiger an, weil ich die Rezepte immer vergaß. Die Frikadelle habe ich zunächst streng nach Klärchen zubereitet, später wurde ein wenig experimentiert. Gelungene Frikadellen schlagen fast alles. Machen Sie deswegen immer ein paar mehr, reden Sie sich ein: „Ich kann sie ja die Woche über kalt essen.“ In Wahrheit werden Sie noch in der gleichen Nacht an den Kühlschrank schleichen, um eine halbe Frikadelle zu essen. Oder sagen wir: anderthalb. Bringen Sie Ihrer Bettgenossin oder Ihrem Bettgenossen die restliche halbe Frikadelle. Vielleicht sagt sie oder er viel zu häufig „nein“, aber in diesem Moment werden sie „ja“ sagen und grunzen.

Pro Person rechne ich mit einem halben Pfund gemischtem Hack, also Rind und Schwein. Bei mir gibt das zwei schöne, brüsteförmige Frikadellen. Ich mag sie dick, rund, saftig und federnd, wenn man mit dem Finger draufdrückt. Auch wenn ich für mich allein koche, mache ich vier Frikadellen. Ich kann die restlichen ja die Woche über kalt essen. Vier Frikadellen gehen in eine 28er-Pfanne. Nehmen Sie eine gusseiserne, Sie werden nämlich während des Bratens den eingebrannten Fleischsaft aus der Pfanne kratzen. Eine beschichtete Pfanne geht davon kaputt.

Verpacken Sie den Wasserhahn, den Behälter mit Flüssigseife, den Griff der Kühlschranktür und Ihr Handy in Plastikfolie. Das Gehackte vom Biometzger in eine Schüssel geben, pro Pfund ein Ei dazu (können auch zwei sein), eine Hand voll fein geschnittene Petersilie, viel gemörserter schwarzer Pfeffer, Salz. Nehmen Sie eine Knolle Knoblauch, gehen Sie in Ihr Bad und werfen Sie die Knolle an die Fliesenwand. Wenn sie zurückspringt, so dass Sie sie auffangen können, ist sie gut. Ein, zwei Zehen pro Pfund Gehacktes in die Schüssel drücken. Zwei, drei kleine Zwiebeln in feine Würfel schneiden und kurz in Butter glasig dünsten. Mitsamt der Butter ins Gehackte, und noch eine Hand voll in Öl geröstete Pistazienkerne dazu!

Es wird immer behauptet, die Brötchen, die wir jetzt einweichen, müssten trocken sein. Dass das Unsinn ist, hat mir schon das Klärchen verraten. Früher war man einfach nur sparsam. Ich benutze keine Brötchen, sondern frisches türkisches Fladenbrot, und zwar ein Fünftel Fladenbrot pro Pfund Gehacktes, zerpflücke es in feine Stückchen und weiche es in Schlagsahne ein. Drücken Sie die Sahne leicht aus dem Brot, geben Sie das Brot in die Schüssel. Die Pfanne mit Sonnenblumenöl steht auf der Platte und wird auf Stufe 2 (von drei Stufen) erhitzt. Jetzt mit beiden Händen in die Schüssel greifen und den Teig tüchtig durchwalken! Der ganze Klumpatsch muss immer wieder zwischen den Fingern hindurchschmatzen.

Das Telefon klingelt! Kein Problem, es ist in Plastikfolie verpackt, und ich kann es problemlos mit der Gehackteshand benutzen. „Ich komme ein bisschen später“, sagt Hasenmaus, „ich weiß nicht, welche Schuhe ich anziehen soll.“ „Hauptsache mit Absätzen“, sage ich satanisch, und „lass dir Zeit, umso besser für die Frikadellen“. „Frikadellen!“, schreit Hasenmaus begeistert, und ich weiß, heute Abend kann kaum etwas schief gehen. Dann kann ich ja noch ein Gläschen Wein zu mir nehmen. Kein Problem, der Griff der Kühlschranktür ist in Plastikfolie verpackt.

Aber was ist mit Flasche, Glas und Korkenzieher? Also doch die Hände waschen! Gut, dass Seifenbehälter und Wasserhahn verpackt sind. Erst mal ein schönes Glas Sylvaner von Michel-Pfannebecker auf ex! Diesen Wein werden wir auch zum Essen trinken, und zwar reichlich. Dann wieder rein ins Gehackte. Ich forme vier runde, dicke, saftige Frikadellen und lege sie in die Pfanne. Nach fünf Minuten nehme ich die Hitze runter, drehe sie jedoch kurz wieder hoch, ehe ich nach einer Viertelstunde die Frikadellen wende. Wie das duftet! Wie schön dunkelbraun sie sind! Wie vorhergesagt, kratze ich jetzt mit dem Löffel ein wenig eingeschmorten Bratensaft aus der Pfanne, lecke den Löffel ab und verbrenne mir die Lippen.

Inzwischen sind die Salzkartoffeln fertig. Das Klärchen nahm immer „Bintje“, ich kaufe beim Biofuzzi „Aula“ oder „Quanta“. Der fein geschnittene Wirsing ist bereits gekocht. Das Klärchen hat mir beigebracht: immer eine Prise Natron ins Kochwasser, gegen die Blähungen! Ich wasche mir die Hände, entferne die Folien und decke den Tisch: Kerzen, Blumen, ein bisschen Mozart. Hasenmaus mag das so. Es klingelt, sie kommt auf hohen Absätzen die Treppe rauf und fragt, ob ich sie vermisst habe. „Natürlich“, sage ich und lege je zwei Frikadellen auf die vorgewärmten Teller, Salzkartoffeln daneben, ich gieße je einen Esslöffel Frikadellenöl darüber. Ich gebe einen Schlag Butter in die Pfanne, löse den Bratensatz und lasse den Wirsing anschmoren, das macht ihn lecker und magenfreundlich, wegen der Röst- und Bitterstoffe. Salz, Pfeffer, Kümmel und, wenn Sie möchten, etwas Sojasoße.

Nun kann es losgehen. Hasenmaus nimmt die Gabel, setzt sie mit der Kante auf die Mitte einer Frikadelle und drückt. Sie muss kräftig drücken, denn die Kruste ist dunkel und fest. In diesem Augenblick nehme ich mein Weinglas, sie nimmt das ihre, und ich sage: „Auf das Klärchen!“

WOLFGANG SCHÖMEL, 48, arbeitet als Literaturreferent bei der Hamburger Kulturbehörde

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