Kinoempfehlung für Berlin: Kino der Utopien
Das Babylon Mitte widmet sich dem Poetischen Realismus, in der Brotfabrik betrachtet man den real existierenden Sozialismus aus kindlicher Sicht.
D ie Bezeichnung „Poetischer Realismus“ für eine bestimmte Form des französischen Kinos der 1930er und 40er-Jahre entstammt der Nachkriegszeit, geprägt seinerzeit vom kommunistischen Filmhistoriker Georges Sadoul, dem daran vermutlich vor allem der Realismus, die Sozialkritik und die politischen Utopien gefielen, die einigen der Filme zu eigen waren.
Es ist also kein Genre, von dem man hier spricht, und auch kein Stil wie etwa der amerikanische Film Noir, den der pessimistische Fatalismus von Werken wie „Le quai des brumes“ (1938) und „Le jour se lêve“ (1939) übrigens durchaus beeinflusste. Vielmehr steht der „poetische Realismus“ für eine Art Zeitgeist, der zwar gewisse Gemeinsamkeiten schuf, dann jedoch von Filmemachern wie Marcel Carné/Jacques Prévert, Jean Renoir, Julien Duvivier und Jean Vigo sehr individuell ausgestaltet wurde.
Gemeinsam war vielen Filmen der Held aus dem Volk, wie ihn Jean Gabin als unumstrittener männlicher Star jener Tage so brillant verkörperte: Er war der Deserteur in „Le quai des brumes“ (R: Marcel Carné), der Arbeiter, der in „Le jour se lêve“ (R: Marcel Carné) den Verführer seiner Freundin erschossen hat und sich in seiner Wohnung verbarrikadiert, und auch der Gangster, dem in „Pépé le Moko“ (R: Julien Duvivier, 1937) sein Versteck in Algier langsam zum Gefängnis wird.
Eine Zukunft gibt es für diese Figuren nicht, und die Ausweglosigkeit ihrer Situation findet sich wieder in den Studiokulissen wie sie der Designer Alexander Trauner für die Carné-Filme entwarf: trostlose Mietskasernen und schäbige Häuschen neben Bahngleisen, eingehüllt vom Rauch der Dampflokomotiven oder eben ein schummeriger „Hafen im Nebel“, in dem es für den Deserteur kein gutes Ende nimmt.
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Die Filme von Jean Renoir haben einen ganz anderen Tonfall: In dem Kriegsgefangenendrama „La grande illusion“ (1937) kommt etwa Renoirs humanistische Gesinnung deutlich zum Ausdruck, „La règle du jeu“ (1939) blickt voller Ironie auf die Welt der Wohlhabenden, und die Tragikomödie „Le crime de M. Lange“ (1936) erzählt eine vergnügliche kleine Gesellschaftsutopie: Nachdem ein Schriftsteller seinen ausbeuterischen Verleger umgebracht hat, führen die Angestellten den Verlag einfach als erfolgreiche Kooperative weiter.
Im Kino Babylon Mitte gibt es den „poetischen Realismus“ mit fünfzehn ausgewählten Beispielen vom 20.1. bis 22.1. zu sehen, darunter mit „Les enfants du paradis“ (1945) auch den letzten Höhepunkt der Zusammenarbeit von Marcel Carné mit seinem Autor Jacques Prévért, die hier in einem romantischen Melodram sehr poetisch von Geschehnissen rund um den Boulevard du Crime erzählen, die Pariser Theaterstraße des 19. Jahrhunderts (Le quai des brumes, 21.1., 19.30 Uhr; Le jour se lève, 21.1., 20 Uhr; Pépé le moko, 22.1., 18 Uhr; Le crime de M. Lange, 20.1., 22.15 Uhr; La règle du jeu, 21.1., 21.15 Uhr; La grande illusion, 20.1., 20 Uhr; Les enfants du paradis, 20.1., 19.30 Uhr, Babylon Mitte).
Von poetischem Realismus könnte man vielleicht auch beim 1981 entstandenen DEFA-Kinderfilm „Sabine Kleist, 7 Jahre“ von Helmut Dziuba sprechen: Sabine, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern in einem Heim lebt, verkraftet es nicht, dass ihre neue Bezugsperson, die Erzieherin Edith, aufgrund ihrer Schwangerschaft den Job aufgibt.
Das Mädchen reißt aus, stromert durch Ost-Berlin, trifft auf die verschiedensten Menschen – und wird dabei ein Stück reifer und verständiger. Ein wiederzuentdeckender Blick auf den real existierenden Sozialismus aus kindlicher Sicht, ohne großes Drama und ohne erhobenen Zeigefinger (18.1.-19.1., 14 Uhr, Brotfabrik Kino).
Besonders zu loben ist auch stets das Kinderfilmprogramm des Wolf Kinos in Neukölln: Hier werden Filme gezeigt, die die Intelligenz und das emotionale Einfühlungsvermögen von Kindern nicht unterschätzen. Das Kurzfilmprogramm „Hüpfen, Fliegen, Träumen“ bietet Unterhaltung und mehr für Vorschulkinder: fünf kurze Animationsfilme ganz ohne Dialoge, aber mit viel Action und Bewegungsdrang (18.1., 14 Uhr, 19.1., 13.40 Uhr, Wolf Kino).
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