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Kinder der Freiheit

Laut Shell-Studie sind junge Menschen heute „unpolitisch“ und „Ego-Taktiker“. Doch statt Label zu vergeben, sollten wir versuchen, ihren politischen Atheismus zu verstehen

Im Dialog der Generationen erneuert sich die Gesellschaft – oder sie erneuert sich eben nicht

Die Jugend ist auch nicht mehr, was sie mal war – das ist wohl eine der ältesten Menschheitsklagen überhaupt. Merkwürdig nur, wie frisch das alte Lamento immer wieder klingt. Gerade wird es wiederholt – als Reaktion auf die Veröffentlichung der 14. Shell-Jugendstudie. Dabei ist an deren Ergebnissen fast nichts neu: Abscheu vor Politikerpolitik; Wertecocktail statt übersichtlicher kultureller oder subkulturelle Formationen; das übergreifende Lebensmotto heißt: Du musst selbst sehen, wo du bleibst. Jedenfalls ist weit und breit keine Rebellion in Sicht. Wieder mal nichts los mit dieser Jugend?

Die neuesten Verfallsprognosen sind Versuche, weit ältere Texte zu überbieten: „Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte.“ Klingt ziemlich brandaktuell, stammt aber von Hesiod. Man könnte einwenden, die Klagen über die Jugend stammten aus den schrillen Perioden der Dekadenz. Aber Hesiod war ja der erste Dichter, der aus dem großen anonymen Chor der Sagenerzähler heraustrat und unter eigenem Namen publizierte. Seitdem ist die Jugendschelte ein Evergreen: „Diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich rücksichtslos …“ (Hesiod)

Dabei ist nicht „diese Jugend“ das Problem, sondern der absolut selbstgewisse Gebrauch des Singulars: die Jugend. Es wohnen mehrere Seelen in ihrer weiten Brust. Sie ist kein Ding, das sich vermessen lässt, sondern ein sich dauernd verändernder Aggregatzustand in einer Lebensphase, die aus lauter Übergängen besteht. Menschen in dieser Lebensphase sind besonders resonanzbedürftig. Und genau das wurde jetzt bei der Veröffentlichung der neuen Shell-Studie unfreiwillig inszeniert.

Klaus Hurrelmann, Hauptautor der Studie, begründete noch sein Label „Generation der Ego-Taktiker“, da begannen Legionen von Jugendlichen an den Elbdeichen Sand in Säcke zu füllen. Sie halfen, wo sie nur konnten. Nicht wenige machten sich von weit her auf den Weg zum Strom in der Hoffnung, gebraucht zu werden. Nicht gebraucht zu werden, überflüssig, ja irgendwie unerwünscht zu sein, das ist nicht erst seit gestern ein Grundgefühl vieler Kinder und Jugendlicher. Gewiss, es ist ein Grundgefühl, eines von verschiedenen, die sich zuweilen widersprechen. Aber Jugend ist gelebter Widerspruch. Jugend taugt als Sammelbegriff nur für diese Pluralität und ständig mutierende Uneindeutigkeit. Die ganze Gesellschaft ist insofern jugendlicher geworden, als die Zeiten des Singulars in den Werten und Ideen vorbei sind. „Ich bin mehrere“ ist keine Krise nur der Jungen mehr. So stehen die neuen Leiden der Jugend heute für die Auflösung klassischer Identitätskonzepte. Kein Grund zum Klagen – oder?

Wenn über Jugend gesprochen wird, muss irgendwie geklagt werden – als sei das Klagen die Eingangsqualifikation zum Ergreifen des Wortes. Kaum hatte sich das Verdikt „Generation der Ego-Taktiker“ – ein für mediale Schnellfeuer leicht nachladbarer Genitiv – unter dem Eindruck der Flut und der sich dagegen setzenden Hilfewelle bei Jugendlichen blamiert, da wurde flugs ein anderes Generalargument nachgeladen: Jetzt ist „diese Jugend“ unheilbar unpolitisch. In der Tat, den Rückzug aus Institutionen, zumal die Abkehr von den Parteien und all dem, was uns die „Tagesschau“ als Politik sendet, verzeichnet jede neue Jugendstudie stärker. Politikerpolitik versiegt in der Lebenslandschaft der Jugendlichen wie ein Rinnsal. Die beliebteste ihrer Parteien heißt bei Befragungen schon seit Jahren: „keine“. Zugleich wächst bei den Jungen aber auch der Wunsch, sich zu engagieren. Leider bleibt er häufig arbeitslos. Das ist in allen Industriegesellschaften ähnlich: „Für viele junge Briten ist Politik so etwas wie ein Schimpfwort geworden“, schreibt Helen Wilkinson vom Londoner Demos Institute. Gleichzeitig, so stellt sie fest, steigen bei jungen Leuten Toleranz und ihre Bereitschaft sich zu engagieren. Wichtig sei ihnen, beim Engagement ihre eigene Wirksamkeit zu erfahren.

Der Wunsch, mit folgenreichem Handeln nach außen wirksam zu werden, geht einher mit dem Wunsch, sein Selbst zu profilieren. Politische Praxis als Opfergang für die höheren Ziele der Geschichte ist nicht mehr denkbar. Alle Weltverwirklichung soll auch Selbstverwirklichung sein. Die Vorstellung von Engagement ist pragmatisch, hedonistisch und selbstreferenziell. Es gibt geradezu eine Idiosynkrasie gegen bloße Worte und ideologische Stabilbaukästen. Politik wird gesucht als Möglichkeit zu handeln – und häufig nicht gefunden. Aber: Mit der Wendung „Politik als die Freiheit zum Handeln“ kehren die Jungen an den Ursprung der Politik zurück.

Gegen diese Tradition steht allerdings eine andere, in der Freiheit vor allem das Aufbegehren gegen Ketten war. „Freiheit, diese Kerkerblume“, seufzte Heinrich Heine. Hier ist Freiheit die Freiheit von etwas. Ein lange Geschichte der negativen Freiheit, die Paradiesversprechen hervorbrachte, angefangen mit jenseitigen Religionen bis hin zu den Endspielen der modernen Geschichtsphilosophie. Der Ort der Freiheit war die Zukunft. Sie winkte von anderswoher. Hier und jetzt war Jammertal.

Aber der Blick zum geschichtsphilosophischen Horizont führt heute nicht mehr nach Utopia, sondern in die Leere. Diese (gewiss nicht nur unergiebige) Flucht ist erschöpft. Das macht den neuen politischen Atheismus aus – und zwar nicht nur bei Jugendlichen. Zugleich aber erholt sich der Grundbegriff aller Politik – die Freiheit – in einem neuen, subversiven Konstruktivismus. Nun geht es um eine Freiheit zu etwas. „Wir haben den Begriff des Willens erfunden, um die Idee des Handelns entwickeln zu können“, schreibt der Philosoph Peter Bieri in seinem Buch „Das Handwerk der Freiheit“, in dem er für die politische Atheistengeneration Freiheit neu formuliert.

„Diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich rücksichtslos …“ – die Jugendschelte ist seit Hesiod ein Evergreen

Es wird Zeit, dem „Verstummen der Worte“, von dem der Soziologe Ulrich Beck kürzlich in einer Rede sprach, neue Wörter und andere Töne entgegenzusetzen; sie zumal bei den Jugendlichen abzulauschen; und sie in jenem Dialog, den man Generationenverhältnis nennt, zu artikulieren. Darin erneuert sich die Gesellschaft. Oder sie erneuert sich eben nicht. Was also verpuppt sich hinter dem Kokon politischer Gleichgültigkeit bei Jugendlichen? Konstituiert sich unter den Jungen abseits der erloschenen Politikerpolitik bereits eine andere Möglichkeit von Kommunikation, Handeln und Engagement? Das ist weder eine theoretisch entscheidbare noch eine empirisch (also über weitere Jugendstudien) zu beantwortende Frage. Es kommt drauf an, was man draus macht.

Mitte der 60er-Jahre wurde die große Studie „Student und Politik“ veröffentlicht. Die aktuelle Studentengeneration wurde als unpolitisch beschrieben. Das Papier war gerade gedruckt, da brach die Politik ausgerechnet unter den Studenten aus: 68 traf die Gesellschaft quasi unerwartet. Mit ihren alten Fragen nach staatsbürgerlicher Bildung & Co. hatte „Student und Politik“ die neue Politisierung nicht einmal ansatzweise erfassen können.

REINHARD KAHL

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