piwik no script img

Kinder- und Jugendbücher für den SommerMach dich auf den Weg

Zwei Neuerscheinungen in Kinder- und Jugendromanen sowie eine Graphic Novel erzählen von Zusammenhalt, Fluchterfahrungen und US-Geschichte.

Graphic Novel von Marzena Sowa (Text) und Dorothée de Monfreid (Illustration): „Die kleine Flucht“ Foto: Verlag Reprodukt

„Das ist bestimmt nicht mein Zuhause. Mein Zuhause wird anders sein, und vor allem wird es woanders sein.“ Auf dem Müllplatz bei Herrn Skarabäus will die kleine rote Spinne auf gar keinen Fall bleiben. An diesen trostlosen Ort hatte ihre Mutter sie gebracht. Hier sollte die ungeratene Tochter unter Aufsicht des dicken Käfers endlich lernen, so ordentliche Netze zu spinnen wie ihre Geschwister im Wald.

Bildstark und humorvoll erzählt die Graphic Novel „Die kleine Flucht“ von der ersten Verzweiflung der jungen Spinne und der Resignation ihrer neuen Schicksalsgenossinnen – einer lispelnden Fliege, einem Glühwürmchen mit schwacher Leuchtkraft und einer immer traurigen Hummel. Für die drei ängstlichen Insekten sind die Tristesse und Monotonie ihres Alltags im Müll Normalität, genauso wie die Launen ihres Aufpassers, des strengen Skarabäus.

Nur die rote Spinne kann sich an die Gräser im Wind, die Pinien, Birken, Weiden und Tautropfen ganz genau erinnern. Sie weiß, dass ein Leben im Wald viel schöner ist. Mühsam kann sie ihre mutlosen Weggefährten überzeugen, etwas Neues zu wagen. Und so schleicht sich die bunte Runde ängstlich in der Dunkelheit davon. Schwach leuchtet das Glühwürmchen ihnen den Weg.

Mit überzeugenden Charakteren und in originellen Szenen entwickeln die Autorin Marzena Sowa und die Illustratorin Dorothée de Monfreid eine einfühlsame Geschichte über Freundschaft und Unvollkommenheit. Die französische Zeichnerin Dorothée de Monfreid, die besonders durch ihre lebendigen Kindercomics der Hundebande bekannt geworden ist, unterstreicht in „Die kleine Flucht“ mit wechselnden Farben und starken Kontraste wirkungsvoll die Dramaturgie des Abenteuers.

Graphic Novel von Marzena Sowa (Text) und Dorothée de Monfreid (Illustration): „Die kleine Flucht“ Foto: Verlag Reprodukt

Spinne, Fliege, Hummel und Glühwürmchen – ihre Figuren haben Ecken und Kanten. Vereint überstehen sie tödliche Gefahren und entdecken das Gefühl, glücklich zu sein. Im Zusammenspiel mit dem von Ulrich Pröfrock stimmig aus dem Französischen übersetzten Dia­logen entsteht daraus eine temporeiche und vielschichtige Erzählung über individuelle Schwächen und gemeinsame Stärken.

Kinderbuch über Geschichte und Alltag in Russland

Anna Desnitskaya ist eine russische Kinderbuchautorin und -illustratorin. In deutscher Übersetzung machen ihre vielfach ausgezeichneten Sachbilderbücher „In einem alten Haus in Moskau“ (2017) oder „Von Moskau nach Wladiwostok“ (2021) über eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn junge Le­se­r*in­nen mit der Geschichte und dem Alltag in Russland bekannt.

„Ein Stern in der Fremde“ ist ihr jüngstes Bilderbuch. Es entstand aus einer sehr persönlichen und zugleich dem aktuellen Zeitgeschehen geschuldeten Erfahrung. Denn nach dem Angriff Russlands auf die Ukrai­ne am 24. Februar 2022 beschlossen die Autorin und ihre Familie, von einer Auslandsreise nicht mehr nach Moskau zurückzukehren. Danach folgten unter widrigen Umständen Stationen in verschiedenen Ländern. Heute leben sie in Montenegro.

Desnitskaya findet eindrückliche Bilder und knappe Sätze für den plötzlichen Verlust alter Gewohnheiten und dem übermächtigen Gefühlen von Fremdheit.

In dem Bilderbuch findet Desnitskaya eindrückliche Bilder und knappe Sätze für den plötzlichen Verlust alter Gewohnheiten und dem übermächtigen Gefühlen von Fremdheit. Wehmütig erinnert sich ein Mädchen in „Ein Stern in der Fremde“ an ihr altes, vertrautes Leben in der Großstadt.

Selbstständig war sie dort auf den Straßen der Nachbarschaft unterwegs, und im Winter leuchtete ihr schon von Weitem eine sternförmige Papierlampe durchs Fenster ihrer Wohnung den Weg nach Hause. Neben diesem Stern auf der Fensterbank saß sie gemütlich mit ihren Büchern oder schaute nach draußen – bis plötzlich der Krieg begann und sie mit ihrer Mutter floh. „Wir gingen in ein anderes Land. Hier ist alles anders als zu Hause. Eine fremde Wohnung. Eine fremde Aussicht. Fremdes Essen.“

In der Darstellung wechselnder Räume und Straßen in der Abenddämmerung findet Desnitskaya einen starken bildlichen Ausdruck für die große Verunsicherung des Mädchens, aber auch für ein erstes Ankommen. Denn glücklicherweise gelingt es der Mutter bald mit einer kleinen, aber hoffnungsvollen Maßnahme in der neuen Umgebung das alte Leuchten und eine Spur von Zuhause herzustellen.

Jugendroman zur US-Geschichte vor dem Bürgerkrieg

Ein außerordentliches Lesevergnügen für die Sommerferien bietet der 300 Seiten starke Abenteuerroman der US-amerikanischen Jugendbuchautorin R. J. Palacio. „Pony. Wenn die Reise deines Lebens lockt, mach dich auf den Weg“ schildert die Suche des zwölfjährigen Silas nach seinem entführten Vater durch den Mittleren Westen der USA. Begleitet wird der scheue Halbwaise von Mittenwool, einem für andere unsichtbaren Freund und Beschützer, und einem zugelaufenen, schwarzen Pony mit auffällig weißem Kopf.

Ihr Weg führt sie schon bald in einen düster sumpfigen Wald, der von unheimlichen Stimmen erfüllt zu sein scheint. Dort stößt Silas zufällig auf den kauzigen Enoch Farmer. Der berichtet, einigen Ganoven auf der Spur zu sein. Zu denen zählt auch Mr. Ollerenshaw, der Anführer einer berüchtigten Fälscherbande. Sein Name war bei der Entführung des Vaters gefallen, und so schließt sich der Junge dem alten Fede­ral Marshal an.

Die opulent angelegte Erzählung beginnt 1860, ein Jahr vor dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs, in dem sich Gegner und Befürworter der Sklaverei gegenüberstehen. Auch frühe Verfahren der Fotografie aus jener Zeit spielen eine Rolle in dem Roman, und einige historische Daguerreotypien hatten sogar Einfluss auf seine Entstehung.

Eine Auswahl hat Palacio den Kapiteln in „Pony“ vorangestellt. Diese wachen und berührenden Porträts von unbekannten Kindern, Männern und Frauen haben sie zu ihren Romanfiguren inspiriert. Genauso sorgfältig recherchierte die Autorin, die 2012 mit der Veröffentlichung ihres Debütromans „Wunder“ weltberühmt wurde, zu Themen wie Geldfälschung oder Spiritismus im historischen Kontext der Erzählung.

Als Silas von seinem behüteten Zuhause aufbricht, beginnt für ihn nicht nur ein neuer Lebensabschnitt. Die Suche nach seinem Vater wird auch zu einer Reise in dessen Vergangenheit und führt ihn hinter das Geheimnis seiner eigenen Herkunft.

Die Bücher

Marzena Sowa (Text) und Dorothée de Monfreid (Illustration): „Die kleine Flucht“. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Verlag Reprodukt, Berlin 2024. 40 Seiten, 15 Euro. Ab 8 Jahre

Anna Desnitskaya: „Ein Stern in der Fremde“. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2024. 40 Seiten, 16 Euro. Ab 5 Jahre

R.J. Palacio: „Pony. Wenn die Reise deines Lebens lockt, mach dich auf den Weg“. Aus dem Englischen von André Mumot. Hanser Verlag, München 2024. 304 Seiten, 19 Euro. Ab 11 Jahre.

Martin Bird war einst als mittelloser junger Mann nach Amerika ausgewandert. Als hochbegabter Erfinder und Fotograf lebte er mit dem Sohn zurückgezogen in einem abgelegen Haus. Denn Silas Mutter Elsa war bei der Geburt gestorben. Von ihr war dem Jungen nur die bayrische Geige geblieben. Die konnte er zwar nicht spielen, doch instinktiv nahm er den Geigenkoffer mit, als er sich mit Mittenwool auf den Weg machte.   

Jede ihrer Figuren stattet J.R. Palacio mit einer umfangreichen Biografie aus. Auch wenn diese Hintergründe in der Erzählung oftmals nur in einem Nebensatz angedeutet werden, entstehen dadurch lebendige Charaktere mit Vergangenheit, die sie in der Handlung zusammenführt. Zusammen mit einer Fülle an zusätzlichen Verweisen wird dieses spannende Abenteuer zu einer komplexen, zuweilen anspruchsvollen Lektüre. Das macht „Pony“ auch zu einem idealen Vorlesebuch.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!