Kiels erster Drogenkonsumraum: „Crack verändert alles“
Kiel soll dieses Jahr einen Drogenkonsumraum bekommen, den ersten in Schleswig-Holstein. Das allein wird die Probleme der Betroffenen aber nicht lösen.
Die Hecke schützt die Menschen in der Mitte vor den Blicken der Passant*innen und diese vorm Anblick offen Drogen konsumierender Menschen. Die Stadt hat sie vor Jahren gepflanzt. „Nachdem es immer mehr Beschwerden über die Drogenkonsument*innen im Park gegeben hat, hat sich Kiel gefragt: Wie können beide Seiten zufrieden sein?“, erklärt Andreas Dehnke, Geschäftsführer vom Verein Odyssee, der mehrere Einrichtungen der akzeptierenden Drogenhilfe in Kiel betreibt.
„Man kann sagen, dass Kiel eine relativ progressive Drogenpolitik vertritt“, sagt Dehnke. Trotzdem gibt es in Kiel bisher noch keinen Drogenkonsumraum, also einen Ort an dem man illegale Drogen unter hygienischen Bedingungen und medizinischer Aufsicht konsumieren kann. Deswegen treffen sich Menschen noch immer an Orten wie dem Schützenpark. In diesem Jahr soll sich das aber ändern. 2024 will Kiel den ersten Drogenkonsumraum im Land eröffnen. Schleswig-Holstein wäre damit das neunte Bundesland mit Konsumraum. Die meisten gibt es in Nordrhein-Westfalen. Auch in Bremen und Hamburg gibt es welche.
Andreas Dehnke begrüßt den Plan. „Wir fordern das schon seit 20 Jahren“ sagt er. Sein Verein soll den Konsumraum betreiben, zusammen mit der Drogenhilfe Kiel. Ein Raum mit sauberem Zubehör und medizinischer Hilfe für den Notfall könne die Lebenssituation Drogen konsumierender Menschen erheblich verbessern, ist sich Dehnke sicher. Die Wissenschaft bestätigt ihn. Studien aus Frankfurt beispielsweise zeigen, dass Drogenkonsumräume Leben retten können.
Sauberes Besteck und etwas Warmes
Nur hundert Meter vom Schützenpark entfernt liegt der Kontaktladen Claro, der vom Verein Odyssee betrieben wird. Das Claro ist für Menschen da, die illegale Drogen konsumieren oder substituiert sind und Unterstützung suchen. Hier kann man sich treffen, kann sauberes Konsumbesteck, Beratung oder für ein paar Euro was Warmes zu essen bekommen. Drogenkonsum ist im Claro verboten.
Vor der Tür sitzt Arne auf einer hellen Holzbank. Er ist fertig mit der Mahlzeit des Tages und legt den Löffel auf den Teller. Der 44-Jährige trägt Cap, Jeans und Turnschuhe, ist ein bisschen hibbelig und bittet um konkrete Fragen, „sonst spring ich von einer Sache zur anderen“.
Ins Claro komme er seit er 16 ist, sagt Arne. Er ist einer, den man einen angenehmen Typen nennt und er spricht gerne über seine Geschichte. Er sagt, „wenn ich damit irgendwelchen Leuten helfen kann, immer los“ und erzählt von einer Spirale aus Sucht, Beschaffungskriminalität, Knast, Entgiftung, Therapie und Rückfall. Seine Geschichte beginnt mit Gras, handelt von Heroin, Kokain und Crack. Seit Jahren ist Arne substituiert, nimmt also statt Heroin eine Ersatzsubstanz.
Damit ist er in Kiel nicht alleine. In Kiel gibt es im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl mehr Substituierte als etwa in Hamburg oder Berlin. Das hat historische Gründe. Der Arzt und Pionier der Substitutionstherapie Gorm Grimm hat hier schon in den 1980ern damit angefangen, stark heroinabhängigen Menschen Codein und später Methadon zu verschreiben. Beides hat kein vergleichbares High zur Folge, aber mildert Entzugserscheinungen ab und kann Leben verlängern. Viele Menschen kamen damals extra für die Substitution nach Kiel. Das wirkt bis heute nach. Zwei Straßenecken vom Claro entfernt liegt eine der größten Drogenambulanzen Deutschlands mit 600 Plätzen.
Die vielen Substitutionspraxen in der Nähe sind auch der Grund, wieso der Schützenpark zum Konsumort geworden ist. „Ich geh da nicht mehr hin“, sagt Arne. Anders als früher sei die Stimmung aggressiv und es werde viel geklaut. „Hauptthema ist Steine – immer Steine, Steine, Steine“ sagt er und meint damit die Droge Crack. „Crack verändert alles.“
Crack ist vielen Städten ein Problem
Wie viele andere Städten in Deutschland erlebt auch Kiel eine Crackwelle. „Konsumierende sind aufgekratzt, nehmen schnell viel ab und sind körperlich nach kurzer Zeit richtig runter“, sagt Andreas Dehnke vom Verein Odyssee. Das verändere die Stimmung in der Szene. Ob der Drogenkonsumraum da Abhilfe schaffen kann, darauf will sich Dehnke nicht festlegen. „Ein Konsumraum ist gut, aber alleine wird das nicht ausreichen“ sagt er.
Eigentlich hat die Stadt Kiel schon Anfang 2021 beschlossen, dass der Drogenkonsumraum kommen soll. Das Land hat daraufhin die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, dann wurde die Realisierung Jahr für Jahr nach hinten verschoben.
Florian Wrobel, drogenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke/Die Partei in der Kieler Ratsversammlung wirft der Stadt vor, die Sache verschleppt zu haben. „Wir haben von Anfang an das Gefühl, dass die Stadt und das Sozialdezernat den Konsumraum nicht so richtig wollen“ sagt Wrobel. In seinen Augen bremst vor allem die SPD.
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) widerspricht. „Wir arbeiten vielleicht nicht mit Lichtgeschwindigkeit, aber verschleppt wird hier nichts“ sagt Kämpfer. Er betont, dass ein Konsumraum teuer ist. Rund 1,2 Millionen Euro im Jahr werden es sein, die Stadt trägt die Kosten allein. „Für eine Kommune wie Kiel ist das nicht leicht zu stemmen“ sagt Kämpfer.
Zudem sei es nicht einfach, einen geeigneten Ort zu finden. „Finden Sie mal einen Vermieter, der dem zustimmt.“ Trotzdem ist der Bürgermeister optimistisch, dass es mit der Eröffnung 2024 klappt. Aktuell sei man mit dem Eigentümer einer Immobilie im Gespräch, „wahrscheinlich wird der Konsumraum auf dem Kieler Westufer entstehen“, sagt Kämpfer.
Mira Arwan, Sozialarbeiterin
Kiel, die zweigeteilte Stadt
Über Kiel muss man wissen, dass es zweigeteilt ist, in ein West- und ein Ostufer. Getrennt durch Wasser, die Hörn und die Kieler Förde. In der Mitte ist der Hafen, da liegen die dicken Pötte, wie Ortskundige Kreuzfahrtschiffe nennen, die dort ankern. Auf dem Westufer, wo auch das Claro und der Schützenpark sind, ist die Innenstadt und damit der Großteil der Infrastruktur.
Auf der anderen Seite, am Ostufer liegt der ehemalige Arbeiter*innen-Stadtteil Gaarden. Kiel-Gaarden hat es in letzter Zeit ziemlich oft in die Presse geschafft. „Anwohner schlagen Alarm“, „Drogenszene besorgt Sozialarbeiter“, „Leben im Brennpunkt“ war zu lesen. In der Lokalpresse, den Kieler Nachrichten, steht fast täglich was über Gaarden. Gemeint ist dann eigentlich nur ein Teil des großen Viertels, Gaarden-Ost, dort gibt es seit Jahren eine Drogenszene, sagt auch die Polizei. Anders als am Westufer registriere man in Gaarden schon lange nicht nur Drogenkonsum im öffentlichen Raum, sondern auch organisierten Handel mit Betäubungsmitteln.
Mira Arwan kennt die Straßen von Gaarden. Die Sozialarbeiterin ist eine große Person mit knallrot gefärbten Dreadlocks und lässigem Gang. „Die Situation in Gaarden wird nicht besser, nur weil es jeden Tag in der Zeitung steht“ sagt sie. Es fängt an zu regnen und sie klappt einen gepunkteten Schirm auf.
Mit ihrer Kollegin ist sie fünf Tage die Woche am Hauptbahnhof und auf den Straßen von Gaarden-Ost unterwegs. „Wir machen schon so unsere elf Kilometer am Tag“, sagt Arwan. Seit 2020 bieten die beiden als aufsuchende Sozialarbeiterinnen Menschen Unterstützung an. „Mal bringen wir wen in eine Notunterkunft, mal helfen wir beim Amt.“
Die Sozialarbeiterin kennt viele Leute auf der Straße mit Namen, ihre Standardfrage ist: „Wie geht’s?“ Sie und ihre Kollegin beobachten, dass sich die Lage auf den Straßen verändert, nicht nur, aber vor allem in Gaarden. „Den Leuten geht es schlechter“, sagt Arwan. „Wir sehen offene Beine, Borkenflechte, Leute im Rollstuhl mit nur einem Bein.“ Dazu komme Crack. Durch die kurzen Highs und den geringen Preis der Droge nehme der Konsum im öffentlichen Raum zu. „Der Beschaffungsort wird direkt zum Konsumort“, sagt Arwan.
Drogenszene trifft sich auch in Gaarden
Einer dieser Orte ist in Gaarden ein Supermarkt Ecke Karlstal, Elisabethstraße. Er gilt als einer der Haupttreffpunkte der Drogenszene in Gaarden. Das Gebäude ist eingerüstet, ein paar Leute stehen in Kleingruppen im Dunkel unter dem Gerüst. „Hier war es deutlich aggressiver im Sommer, mittlerweile ist weniger los“, sagt Mira Arwan. Das liege an der Jahreszeit, „es ist einfach zu kalt“. Im Sommer sei die Bushaltestelle vor dem Supermarkt fast durchgängig besetzt gewesen von konsumierenden Menschen.
Crack ist Kokain, das mit Natron aufgekocht wurde. Bei diesem Vorgang entstehen kristallene Steine, die „cracken“, also knacken, wenn man sie raucht, daher kommt der Name.
Konsumiert wird Crack in der Regel mit kleinen Glaspfeifen. Es wirkt kurz und stark und macht sehr schnell psychisch abhängig.
Anders als das High von Heroin, das ein paar Stunden dauert, ist die Wirkung von Crack nach 10 bis 20 Minuten vorbei. Viele haben direkt das Verlangen nach dem nächsten Stein. Der ist mit fünf Euro nicht gerade teuer und einfach zu beschaffen. Das ist ein Grund, warum sich Crack so rasant ausbreitet.
Das habe auch daran gelegen, dass im Sommer ein andere Treffpunkt der Szene, direkt um die Ecke geräumt worden war. Ein Garten neben einem leer stehenden Haus am Steinmarderweg 34 hatte als alternatives Gartenprojekt angefangen und sich über Jahre zu einem Aufenthaltsort konsumierender Menschen entwickelt. „Am Ende war das ein selbst gebauter Konsumraum, ein Safe Space“, sagt Arwan. Es sei allerdings auch problematisch gewesen, vor allem, da direkt gegenüber vom Garten eine Kita ist. Im Juli wurde dann geräumt. Heute ist der Garten umzäunt, die Wiese leer.
„Der Bürgermeister hat sich das angeguckt und direkt die Räumung angeordnet, wollte wohl die Sache in die Hand nehmen“, sagt Arwan. Sie und ihre Kollegin kritisieren, dass die Räumung des Gartens überstürzt geschehen sei. „Das große Problem ist, dass die Stadt keine Alternative geschaffen hat. Wo sollen die Leute hin?“, sagt Arwan.
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) kennt die Kritik am Vorgehen im Steinmarderweg. Trotzdem hält er an der Entscheidung fest. „Die Zustände waren nicht mehr vertretbar“ sagt er.
Gaarden liege ihm am Herzen, betont Kämpfer. Er weist auf den Neubau einer Grundschule und die Förderung von Kulturprojekten hin. Ihm schwebe eine „sanfte Gentrifizierung“ vor, Aufwertung ohne rasant steigende Mieten und Verdrängung.
Polizeipräsenz ist erhöht worden
Zum Plan für Gaarden gehört aber auch verstärkte Polizeipräsenz. Seit der Räumung des Gartens fährt die Polizei öfter Streife, es gibt regelmäßig Razzien und Kontrollen, das bestätigt ein Sprecher der Polizeidirektion Kiel der taz. Auch auf dem Westufer am Schützenpark wird mehr kontrolliert. „Ziel ist keine Strafverfolgung von Konsumenten“, sagt der Sprecher. Es gehe um Dealer*innen und organisierte Kriminalität, die Kontrollen seien Teil einer Strategie.
Zu der gehört auch die Schaffung von acht zusätzlichen Stellen des Kommunalen Ordnungsdiensts, in Gaarden. Zudem soll die Polizeiwache in Gaarden ab Anfang 2024 als erste in Schleswig-Holstein mit Elektroschockern ausgerüstet werden, das hat allerdings das Land entschieden.
Nicht zum Plan für Gaarden gehört dagegen ein Drogenkonsumraum. „Wir glauben nicht, dass Gaarden das stemmen kann“, sagt Bürgermeister Kämpfer. Man wolle den ohnehin belasteten Stadtteil nicht überfordern.
Florian Wrobel von der Partei findet das falsch. „Drogenkonsumräume müssen eigentlich da hin, wo die Szene ist“, sagt er. Das sieht auch Andreas Dehnke von Odyssee e.V. so. „Szenen gibt es in Kiel zwei. Es macht also auf jeden Fall Sinn, perspektivisch zwei Konsumräume zu haben.“ Einig ist man sich aber über eines: Die zunehmende Verelendung vieler konsumierender Menschen im öffentlichen Raum wird ein Drogenkonsumraum allein nicht abwenden können. Es fehle insgesamt an Räumen sagt Sozialarbeiterin Mira Arwan. Notunterkünfte seien überfüllt, wie andernorts fehle es in Kiel an Wohnraum. „Es gibt einfach keine einfachen Antworten“, sagt sie.
Arne sieht das ähnlich. Er befürwortet einen Konsumraum, „auch wenn ich selbst nicht hingehen würde“. Er konsumiere lieber zuhause. „Für die anderen braucht es dringend mehr Räume, Kiel ist schlimm geworden“ sagt er. Dann streckt er seinen Kopf noch einmal durch die Tür zum Kontaktladen Claro, das an diesem Tag wie ein kleiner Hafen wirkt. „Hat gemundet, danke“, sagt er, reibt sich den Bauch und macht sich wieder auf ins Grau von Kiel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren