Keir Starmers Migrationspolitik: Neue britische Sandburg
Die jüngsten rassistischen Krawalle zeigen, dass die migrationsfeindliche Strategie des britischen Premiers Starmer nicht gegen rechts absichert.
E igentlich gibt es viel, über das man sich freuen kann. Bald vier Wochen nach dem Erdrutschsieg der britischen Labour-Partei hat man das Gefühl, dass die Kompetenz in die Ministerien von Westminster zurückgekehrt ist. Es steht ein Berg an Arbeit an, und die neue Regierung von Keir Starmer hat allerhand Pläne, ihn abzuarbeiten. Aber die Schwächen, die der neue Premierminister bereits als Oppositionschef an den Tag gelegt hat – ein Hang zum Autoritarismus und eine obsessive Feindseligkeit gegenüber der Linken – sind ebenso offensichtlich geworden. Das könnte ihm noch Probleme bereiten.
Zunächst einmal: Dass die Tory-Ära vorerst vorbei ist, lässt aufatmen. Die konservative Regierungen der vergangenen vierzehn Jahre haben das Land in einem erbärmlichen Zustand hinterlassen, vom maroden Gesundheitsdienst NHS über grassierende Obdachlosigkeit bis zur Finanznot der Kommunen. Mit Elan hat sich Keir Starmer an den Wiederaufbau gemacht.
So hat er die schrittweise Wiederverstaatlichung des Bahnsystems in Aussicht gestellt, zudem ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm sowie die Gründung eines staatlichen Investmentfonds, der Gelder für den grünen Umbau der Wirtschaft lockermachen soll. Auch im Arbeitsmarkt wird Labour verstärkt intervenieren: Ausbeuterische „Null-Stunden-Verträge“, bei denen die Arbeitnehmer keine Garantie haben, wie viele Arbeitsstunden sie absolvieren, sollen verboten werden. Den Assistenzärzten, die seit über einem Jahr streiken, hat das Gesundheitsministerium eine Gehaltserhöhung von 22 Prozent angeboten.
Kinderarmut? Kein Geld da!
All das ist zu begrüßen. Aber in ihren ersten Wochen an der Regierung hat Starmers Labour auch eine andere, weit weniger progressive Seite gezeigt. Vergangene Woche etwa schmiss er sieben seiner Abgeordneten kurzerhand aus der Fraktion. Ihr Vergehen: Sie hatten für einen Antrag der Schottischen Nationalpartei gestimmt, um den sogenannten two child benefit cap über Bord zu werfen. Gemäß diesem Kindergeld-Deckel, der 2017 von den Tories eingeführt wurde, können mittellose Eltern nur für ihre ersten zwei Kinder Sozialleistungen beziehen. Experten schätzen, dass eine Abschaffung des Deckels rund 300.000 Kinder aus der Armut heben würde. Aber Starmer will ihn nicht abschaffen – kein Geld da, sagt er.
Dass er gleich so rigoros gegen die Rebellen in den eigenen Reihen vorgegangen ist, zeugt von einer erstaunlichen Dünnhäutigkeit. Alle sieben Abgeordneten sind dem linken Flügel zugehörig. Diesen autoritären Führungsstil führt er jetzt als Premierminister fort. Er ist unfähig, Dissens in der eigenen Partei zu tolerieren.
Das zeigt sich auch bei der Migrationspolitik. Hier demonstriert Starmer Härte, als wäre sie eine Tugend. Klar, das Ruanda-Abschiebeprogramm hat er dankenswerterweise eingestampft. Als wichtigsten Grund führt er jedoch nicht die offensichtliche Unmenschlichkeit des Programms an, sondern die Ineffizienz. Auch er spricht davon, wie wichtig „sicherere Grenzen“ seien, und will Asylbewerber:innen schneller in sichere Länder zurückschaffen. Zudem will er den Kampf gegen Schmugglergangs aufnehmen – obwohl Migrationsexperten diesen Fokus für kontraproduktiv halten. Vorletzte Woche kündigte Innenministerin Yvette Cooper an, dass der Grenzschutz verstärkt werde sowie Nagelstudios und Autowaschsalons, wo viele irreguläre Migranten arbeiten sollen, ins Visier genommen würden.
Ein entscheidender Grund, warum Starmer so hart gegen Migranten durchgreifen will, ist die Absicherung gegen rechts. Nigel Farages migrationsfeindliche, rechtspopulistisch bis rechtsextreme Partei Reform UK ist zu einer ernst zu nehmenden Kraft in der britischen Politik geworden. 14 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben vor einem Monat für die Partei gestimmt, sie hat fünf Unterhaussitze ergattert und ist in fast hundert Wahlkreisen auf dem zweiten Platz gelandet. Die jüngsten rassistischen, islamophoben Krawalle in England zeigen, wie stark die extreme Rechte geworden ist – nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf der Straße.
Noch hat die Regierung keine Strategie vorgelegt, wie sie das Gift des Rechtsextremismus aus der Gesellschaft entfernen will. Bisherige Äußerungen lassen jedoch vermuten, dass sie auf Imitation setzt. Das heißt: Der Vormarsch der Rechten soll sich gerade dadurch stoppen lassen, indem man eine kompromisslose Migrationspolitik verfolgt. Das ist ein fataler Fehler. Denn wer die rechten Parteien imitiert, gibt ihnen in den Augen der Wählerinnen und Wähler eine Legitimation – und macht sie dadurch stärker. Jahrelang haben die Tories versucht, durch zunehmend rechtspopulistisches Gedöns den eigenen Niedergang aufzuhalten. Das Resultat: Der Niedergang kam trotzdem, und die Reform-UK-Partei ist so stark wie noch nie zuvor.
Linke Opposition abseits Labour?
So verfolgt Starmer eine Strategie, die die Rechte stärken wird und gleichzeitig die progressive Linke vor den Kopf stößt. Letztere wird sich nach Alternativen umschauen – und hat es bereits getan: Die Grünen und unabhängige Kandidaten erzielten am 4. Juli ein überraschend gutes Resultat. Es ist ein Durchbruch, der eine Grundlage bilden kann für den Aufbau einer linken Opposition außerhalb Labours.
Das könnte Starmer Schwierigkeiten bereiten. Denn der Erdrutschsieg ist nur auf dem Papier beeindruckend – er verdankt sich vor allem dem veralteten Mehrheitswahlrecht, das die Resultate stark verzerrt. In England konnte Labour seinen Stimmenanteil im Vergleich zu 2019 überhaupt nicht erhöhen. Gemessen an der absoluten Zahl der Stimmen hat Starmer gegenüber 2019 sogar eine halbe Million Unterstützer verloren.
Kurz: Es ist lediglich ein Sandburg-Sieg. Wenn Starmer weiterhin alles daran setzt, die Linke zu vergraulen und stattdessen die Rechte zu hofieren, dann wird die Burg schnell anfangen zu bröckeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge