Keine Radioaktivität ausgetreten: Störfall in der Ukraine
Im größten AKW Europas führt ein Störfall zur Notabschaltung des Reaktors. Der Ministerpräsident spricht von einem Unfall.
BERLIN taz | Die Ukraine ist beim Störfall in einem Atomkraftwerk offenbar glimpflich davongekommen. Bereits am vergangenen Freitag wurde nach Angaben von deutschen und ukrainischen Behörden bei einem Zwischenfall im größten Atomkraftwerk Europas, dem AKW Saporischschja am Dnjepr, der Reaktorblock 3 aus Sicherheitsgründen heruntergefahren. Bislang gebe es keinen Hinweis darauf, dass Radioaktivität ausgetreten sei, hieß es von den Behörden.
Alarmiert wurde die Öffentlichkeit durch eine Aussage des ukrainischen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk. Der hatte behauptet, in Saporischschja habe sich „ein Atomunfall“ ereignet. Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch widersprach Energieminister Wolodimir Demtschischin: „Es gibt keine Probleme mit den Reaktoren“, sagte er, von der Anlage gehe keine Gefahr aus. Bis Freitag sollten die Probleme an Block 3 der Anlage behoben sein.
Der staatliche Stromkonzern Ukrenergo erklärte, die Anlage sei heruntergefahren worden und im sicheren „kalten Zustand“. Das heißt, dass die Kettenreaktion im Reaktor unterbrochen ist und im Reaktorkern selbst auch keine große Hitze mehr entsteht, die zu einer gefährlichen Situation führen könnte. „Radioaktive Folgen sind nicht nachweisbar“, hieß es in der Erklärung von Ukrenergo.
Das Problem sei im nichtnuklearen Teil der Anlage aufgetreten, erklärte die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) auf Anfrage der taz. An der Schnittstelle von Kraftwerk und Stromnetz habe es Schwierigkeiten gegeben. Ein Kurzschluss und Brand hätten einen Generator stillgelegt. Daraufhin sei die Turbine abgeschaltet worden, die den Generator antreibt. Diese Abschaltung wiederum habe dazu geführt, dass der Atomreaktor in Block 3 gemäß den Sicherheitsbestimmungen heruntergefahren worden sei. Die GRS verfügt über Informationen aus erster Hand, weil sich derzeit ein Mitarbeiter in der Aufsichtsbehörde in Kiew aufhält.
Angst vor einem zweiten Fukushima
Diese Informationen widersprechen den Ängsten vor einem Fukushima-Szenario, die zuerst geherrscht hatten. Im März 2011 waren im japanischen AKW Fukushima Daiichi nach einem Erdbeben und Tsunami die Generatoren zerstört worden, die den Strom für die Kühlwasserpumpen der Reaktoren lieferten. Die Reaktoren hatten deshalb in ihren Kernen noch genug Wärme produziert, um die Brennelemente zu einer radioaktiven Masse zu zerschmelzen und die Reaktorhüllen zumindest teilweise zu sprengen. Seit dem Unfall verseuchen Tausende Tonnen von hochradioaktivem Kühlwasser das Erdreich rund um das AKW-Gelände an Japans Ostküste.
Auch Sören Kliem, Leiter des Fachbereichs Reaktorsicherheit am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, sagte der taz: „Das war kein Atomunfall.“ Der Vorfall würde höchstens mit 0 oder 1 auf der internationalen Störfallskala INES bei der UN-Atombehörde IAEA gelistet werden, schätzt er. Eine solche Klassifizierung gibt es aber noch nicht, und die IAEA erwähnte den Vorfall auf ihrer Homepage am Mittwoch noch nicht.
Kliems Institut ist mit dem AKW Saporischschja gut vertraut: In den neunziger Jahren halfen die deutschen Forscher, in den sechs Blöcken eine „Fernüberwachung“ zu installieren. Seitdem sind Daten aus dem Kraftwerk in der Ukrenergo-Zentrale abrufbar. „Aus der Entfernung ist es schwierig, etwas über den Zustand der Anlage zu sagen“, meinte Kliem. „Aber jede Anlage ist nur so gut wie ihre Wartung.“
Immer wieder Stromausfälle
Der Zustand des Stromnetzes in der Ukraine ist derzeit miserabel. Das Land schafft es zu Beginn des Winters nicht, die benötigte Energie zu erzeugen. Immer wieder gibt es großflächige Stromausfälle, wie nach dem Störfall in Saporischschja 3. In der Vergangenheit waren immer wieder Sorgen laut geworden, die Atomkraftwerke könnten durch den Konflikt in der Ostukraine zu Zielscheiben militärischer Aktionen werden. Das AKW Saporischschja liegt nur etwa 200 Kilometer von der Zone entfernt, in der heftig gekämpft wird.
Auf eine andere Gefahr hatten ukrainische Wissenschaftler in diesem Jahr hingewiesen: Da sich durch den Konflikt über die Krim und die Ostukraine die Beziehungen zu Russland so verschlechtert haben, suchen auch die ukrainischen AKW-Betreiber eher die Nähe von westlichen Konzernen für ihre Energieinfrastruktur. Doch die Atomkraftwerke, die alle noch aus den Zeiten der Sowjetunion stammen, seien dringend auf Ersatzteile aus Russland angewiesen, warnten Wissenschaftler. Wenn der Nachschub zum Erliegen komme, könne das die Sicherheit gefährden.
Die Sensibilität für Atomunfälle in der Ukraine ist hoch. Denn im Norden des Landes hatte sich im Frühjahr 1986 die bislang schwerste zivile Nuklearkatastrophe der Welt ereignet. Am AKW Tschernobyl war ein Reaktor nach einem Bedienungsfehler in Brand geraten und war unter Betrieb explodiert. Das Desaster verseuchte die Stadt und die Region und schickte eine radioaktive Wolke nach Europa. Die Ruine von Tschernobyl ist nach wie vor so stark verstrahlt, dass sie nicht betreten werden kann. Derzeit wird bereits das zweite Sicherheitsdach über dem einbetonierten Reaktor vor Ort gebaut.
Aber Nuklearunfälle sind keine Spezialität der Ukraine. Am Sonntag wurde nach Angaben von Greenpeace Block 3 des belgischen Atomkraftwerks Tihange in einem Notverfahren abgeschaltet. Der Grund: ein Feuer in der Umspannanlage.
Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, ein Mitarbeiter der GRS habe sich zur Zeit des Vorfalls in der Zentrale von Ukrenergo in Kiew aufgehalten. Tatsächlich war er bei der Aufsichtsbehörde, nicht beim Betreiber.
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