: Keine Liebesgrüße aus Moskau
■ »Außenseiter« — Dokumentarfilm über Homosexualität in der ehemaligen UdSSR
Heute solidarisieren sich auf den Straßen von St. Petersburg zum ersten Mal Berliner Lesben und Schwule mit ihren russischen »Schwestern« und »Brüdern«, um den Stolz auf die sexuelle Andersartigkeit öffentlich zur Schau zu tragen. Am Vorabend des Christopher Street Days lief im Kreuzberger Eiszeit-Kino der erste Videofilm über Homosexualität in der ehemaligen Sowjetunion an. Der 63minütige Dokumentarfilm entstand, als St. Petersburg noch Leningrad hieß und Moskau die Hauptstadt des sozialistischen Imperiums war. Ton- und Bildqualität des Videos sind bescheiden, doch dafür erscheint der Informationsgehalt um so wertvoller. Die Filmemacherinnen Olga Zhuk, Natalie Scharandak und Julie Dorf lassen BewohnerInnen beider Städte zu Wort kommen
»Homosexualität ist eine rein persönliche Angelegenheit«, urteilt eine Moskauerin, während die Leningrader Kommunalpolitikerin mittleren Alters einräumt, sie verstünde das Wesentliche an Homosexualität, doch Homosexuelle müßten geheilt werden, schließlich trieben sie Unzucht. Später informiert Olga Zhuk: die Politikerin sei lesbisch — ein bekanntes Phänomen: Selbstverleugnung, Selbsthaß, Assimilation, um zu überleben.
»Was nicht auf Zeugung gerichtet oder von ihr überformt ist, hat weder Heimat noch Gesetz«, schrieb Michel Foucault über die Sexualität im viktorianischen Zeitalter. Seine Idee läßt sich leicht auf jede bürgerliche Gesellschaft übertragen, erst recht auf die sozialistische. Die Kriminalisierung von Homosexualität hat Tradition, in Rußland wie in der Sowjetunion. Vor 99 Jahren nahm sich in St. Petersburg Peter Tschaikowsky das Leben. »Er hätte nie Selbstmord begangen«, meint im Film ein junger Schwuler, »wenn er sich öffentlich zur Homosexualität hätte bekennen können.« Tschaikowsky krankte (und starb), wie so viele Lesben und Schwule im Zarenreich, am § 121 des Strafgesetzbuches, der Sodomie untersagte und bestrafte. Nach der Oktoberrevolution 1913 strich Lenin den Artikel, doch Stalin nahm den homophoben Paragraphen 1933 wieder auf.
60 Jahre wurden homosexuelle Frauen und Männer in der UdSSR gejagt, gequält und schlimmstenfalls ermordet. Im Grunde richtet sich der Paragraph nur gegen Männer; weibliche Homosexualität wollte man nicht wahrhaben. Es mutet schon fast komisch an, daß Olga Zhuk 1990, als sie verstärkt an die Öffentlichkeit trat, um die Registrierung der »Tschaikowsky-Stiftung« für homosexuelle Männer und Frauen zu erreichen, gemäß § 121 der Sodomie bezichtigt und inhaftiert wurde. Später ließen die Richter die Anklage fallen. Sodomie zwischen homosexuellen Frauen sei biologisch nicht möglich, hieß es. Mittlerweile hat die russische Gegenwart den Film in einem Punkt überholt: Homosexualität wird seit kurzem nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Vermutlich hat die Gesetzesänderung mit dem Einbruch der Gegenwart in alle Bereiche der russischen Gesellschaft zu tun. Aids ist längst nicht mehr nur ein Problem der westlichen Hemisphäre. Der Film zitiert den Leiter der Aids- Abteilung eines Leningrader Krankenhauses. Der Mediziner ist empört. Die Kriminalisierung von Homosexualität hat verhindert, daß HIV-Infizierte oder an Aids erkrankte Menschen medizinischen Beistand suchten. Offizielle Statistiken sprechen von 600 Erkrankungen in Rußland, Olga Zhuk glaubt an die Dunkelziffer 600.000 — eine dramatische, eine tödliche Differenz.
Noch nie wurde in Rußland so häufig von Homosexualität gesprochen wie in diesen Tagen der gesellschaftlichen Erneuerung. Mit dem Untergang des sowjetischen Imperiums verschwanden auch dessen Feinde. Wo die Expansion nach außen nicht mehr angesagt ist, müssen die neuen Feinde im Inneren gesucht werden. Die Boulevardpresse hat sie gefunden: Homosexuelle, Juden und andere Minderheiten. In einem ungekannten Ausmaß finden Denunziationen und Diskriminierungskampagnen in den Medien statt — offensichtlich mit Erfolg. 30 Prozent der russischen Bevölkerung, das behauptet der Film, plädiere für die Liquidierung oder strengste Isolation homosexueller Mitmenschen. Andrea Winter
Außenseiter, Eiszeit, OmU. 27.6.-1.7. 19 Uhr, Zeughofstraße.
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