"Kein Schlaf in Sicht" von Henning Ahrens: Im Mittelpunkt der Welt
Das Pathos des Wörterrausches hat dieser Autor im Arsenal und die Artistik der plötzlichen Erkenntnis - aber es geht hier auch um konkrete Wahrnehmungen des Alltags.
Eins der schönsten Gedichte, "A Space Odyssey (2005)", handelt von einer Trennung und geht so:
Verloren gegangen im Kosmos der Küche, / schweben wir zwischen Tränen und Schwüren
im rotweindunklen Nichts. Die Sterne / flackern in Teelichthaltern,
die Sonne verglimmt in den Rankenspiralen / der Zimmerpflanze. Wir ringen um Worte,
du sagst mir: Stell die Heizung höher, / und gehst dir einen Wollschal holen,
auf unseren Zungen verfliegen die Sätze, / Kometenstaub, und unsere Blicke
Verschwinden alle in Schwarzen Löchern. / Verloren gegangen im Kosmos der Küche,
verweigern wir uns gegenseitig die Landeerlaubnis / auf unserem Planeten.
Man erkennt die Situation auf den ersten Blick. Ein verfahrenes Beziehungsgespräch am Küchentisch. Ein Gefühl von Verlorenheit liegt über der Szenerie, aber auch der Eindruck, dass da etwas Wichtiges geschieht: Zum ganzen Universum ist die Küche geworden. Das Gedicht setzt allerdings ein in einem Moment der Ermattung, die lyrische Stimme zieht sich auf eine Beobachtungssituation zurück - während das Gespräch in den Versen noch Gegenwart ist, ist in diesen Allmetaphern, die das Gedicht durchspielt, bereits Schluss, Ende, Vergeblichkeit. Ein Frösteln ist in diesen Versen und auch ein Moment von Hilflosigkeit.
Interessant sind die beiden Verse genau in der Mitte; es ist die einzige Stelle, an der von einem Du und einem Ich die Rede ist, am Wir hält das Gedicht sonst noch fest. Zugleich unterbrechen diese Verse die Draufschau, es wird tatsächlich etwas gesagt, allerdings etwas zutiefst Banales: "Stell die Heizung höher" - was aber auch etwas Bedeutungsschweres erhalten kann: Es ist so kalt geworden zwischen uns, trotz aller Tränen und Schwüre.
In den letzten drei der kurzen Strophen kann man sich dann den lyrischen Sprecher vorstellen, wie er allein in der Dunkelheit der Küche sitzt, während das Du sich den Schal holt. Die letzten drei Verse haben schließlich etwas von Absturz und Schlussstrich, sie ziehen - eine Spur zu deutlich - das Resümee. Vielleicht werden die beiden noch die ganze Nacht in der Küche weiterreden, aber eigentlich ist längst alles entschieden. Man weiß nur nicht recht, ob im abschließenden Planetenbild noch einmal ein lyrisches Pathos aufscheint oder ein gewisses müdes Vorhaben, nun zumindest dieses Gedicht mit einem leicht klappernden Bild abgerundet zu bekommen. Irgendwo zwischen diesen beiden Polen bleibt das Gedicht in der Schwebe.
Solchen alltäglichen Situationen begegnet man häufig in dem Gedichtband "Kein Schlaf in Sicht" von Henning Ahrens, nicht immer sind sie von vornherein so gewichtig. Es gibt Fahrradfahrten übers Land und den Moment, wenn man auf dem Sofa sitzt und das Telefon beiseite gelegt hat, es gibt Blicke aus dem Fenster und Montagmorgende. Auch den Sternen kann man in vielen der Gedichte wiederbegegnen, wobei sie etwas Schimmerndes und je nach Gedicht und Perspektive unterschiedliche Färbung haben. Dass am Himmel "die Sterne wie Maden wimmeln" heißt es einmal.
Es ist diese Reibung zwischen konkreten Alltagswahrnehmungen und einer durchaus auch angelesenen lyrischen Metaphernwelt, die viele dieser Gedichte ausmacht. Auf der einen Seite kann man sich genau vorstellen, wie die Küche aussieht, in der sich das nächtliche Gespräch abspielt. Man weiß, dass sie in einem Haus liegt, in dem es Mäuse gibt (Mausefallen gehören auch zu den wiederkehrenden Motiven). Man weiß, dass das Haus einen Garten hat, in dem Japankirsche und Forsythie blühen (so in dem Gedicht "Brief"), und dass das Grundstück in einem Dorf liegt, wobei das Landleben in den Gedichten keineswegs idyllisch verklärt wird ("Wenn ich dann abends / mit einem Glas Wein draußen auf der Bank sitze / und mein Nachbar wieder ,Scha-heiße!' brüllt, // weil die Anhängerkupplung seines Treckers klemmt", so in "Dorf, Stille").
Auf der anderen Seite hat sich dieses lyrische Ich aber auch in einer dezidiert literarischen Welt eingerichtet. Emphatisch ist von Nymphen und Mänaden die Rede, große Themen wie die fehlenden Götter, Tod und Lebensstürme werden umspielt, und gelegentlich werden euphorisch die Wallungswerte starker Aromen beschworen. Vor allem mit Namen kann dieser Autor auch kräftig auftreten. "Die Abenteuer von M. Cauchmare" heißt ein Gedichtzyklus im zweiten Teil des Bandes, ein anderer Zyklus "Fellrock, oder: Sein Schatten".
Henning Ahrens, geboren 1964, lebt in Handorf, Niedersachsen. Mit drei Romanen - "Lauf Jäger lauf", "Tiertage" und "Langsamer Walzer" - hat er sich den Ruf erschrieben, ein Geheimtipp für alle diejenigen zu sein, die glauben, dass die Handke-Position in unserer Literaturlandschaft einmal revitalisiert werden müsste: Henning Ahrens kann tatsächlich mit Wörtern zaubern und zugleich ganz gegenwärtig und ganz fremd auf die Welt schauen. Das Pathos des Wörterrausches hat er in seinem Arsenal und auch die Artistik der plötzlichen Erkenntnis (von einem "Innenblitz" ist in einem Gedicht die Rede, ein Wort, in das man sich geradezu verlieben kann). Dann ist da aber auch etwas zutiefst Bodenständiges in seinem Schreiben. Am besten kann man die Gedichte immer dann finden, wenn beide Seiten zusammenkommen.
Etwa im Gedicht "Niemals". Ganz konkret geht es los: "ein Wind kommt auf / im Laub der Linden // und lindert das Fieber / meiner Kinder, / die mit dem Aus einer Liebe ringen, / die sie nicht kennen". Der zweite Teil springt aber um zu einem komplexen Sinnspruch, über dessen Geheimnis man lange grübeln kann: "Frauen und Männer, / und was einander verbindet, muss enden, / weil keiner vom anderen weiß / und sich ändert / und Kreise sprengt / und das verschwendet, // was nicht mehr ist / und sein kann, // niemals." Man kann sich in vielen dieser Gedichte gleichzeitig auf dem Dorf und im Mittelpunkt der Welt fühlen.
Henning Ahrens: "Kein Schlaf in Sicht". Fischer, Frankfurt am Main 2008, 92 Seiten, 16,90 Euro
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