: Kein Geld fürs Alphabet
■ Drei Prozent aller Hamburger können kaum schreiben und lesen. Dennoch soll Alphabetisierungsprojekt geschlossen werden
Schreiben lernen wird für erwachsene HamburgerInnen immer schwieriger. Bis zu drei Prozent von ihnen haben Probleme, am Telefon Notizen mitzukritzeln oder die Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel der Aspirin-Schachtel zu entziffern; häufig finden sie deshalb keinen Job. Dennoch wurden Kurse für AnalphabetInnen in den vergangenen Jahren stark zusammengekürzt; zum Jahresende soll das letzte Projekt dichtmachen, das noch Vollzeit- und Intensivunterricht erteilt. Gestern, am Weltalphabetisierungstag, protestierten deshalb SchülerInnen und LehrerInnen gegen die Schließung.
„Wenn wir nicht mehr arbeiten, ist das Seminarangebot insgesamt um rund 40 Prozent zurückgegangen“, sagt Dieter Herbst. Er ist beim „Verein zur Förderung der beruflichen Bildung“ für das Projekt Alphabetisierung verantwortlich, bei dem rund 50 Männer und Frauen Buchstaben und Zahlen kennenlernen.
Herbsts Aufgabe ist es auch, den Laden bis Ende 1998 abzuwickeln. Die Finanzierung laufe aus, teilte ihm die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung (BSJB) mit. Was dann mit den KursteilnehmerInnen und den rund 40 Lernwilligen auf der Warteliste passiert, ist unklar. „Es gibt keine Einrichtungen, auf die sie ausweichen könnten“, ärgert sich Herbst.
Einzig die Hamburger Volkshochschule (VHS) bietet dann noch Alphabetisierungs-Kurse an. Allerdings nur stundenweise und nicht häufiger als zweimal wöchentlich. „Ein Vollzeit-Angebot können wir nicht leisten“, analysiert VHS-Mitarbeiterin Almut Schladebach. Doch gerade das ist reizvoll für Lernwillige, deren Motivation häufig darin besteht, schnell einen Job zu finden. „Viele unserer Teilnehmer sind arbeitslos oder leben von Sozialhilfe“, sagt Herbst. Die Behörde hofft, daß die ausländischen AnalphabetInnen auf die Kurse der AG Karoviertel ausweichen. Die Einrichtung bekommt mehr Geld als vorher, doch eine Warteliste gibt es auch hier.
Mangelndes Engagement in Sachen Alphabetisierung will sich die Schulbehörde dennoch nicht vorwerfen lassen. Gemeinsam mit dem UNESCO-Institut für Pädagogik präsentierte Landesschulrat Peter Daschner gestern ein Buch namens „Fantasien von Kindern aus aller Welt“. In 25 Sprachen schreiben Jugendliche darin über sich und ihr Land; jeder Beitrag ist in der Originalsprache gedruckt sowie in deutsch und englisch übersetzt. „Damit werden Kindern Schrift und Sprache nahegebracht“, erklärte Daschner.
Das ist gerade in Großstädten wie Hamburg geraten. Ständig steigt die Zahl der sogenannten „funktionalen Analphabeten“, die lesen und schreiben zwar irgendwann ge-, aber schnell wieder verlernt haben; rund 1500 Jugendliche jährlich verlassen die Schulen ohne Abschluß. Judith Weber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen