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Katja Kipping im PersönlichkeitscheckSchwierige Erbschaft

Wie tickt die kommende Politikergeneration? An Katja Kipping, Vizevorsitzende der Linkspartei, brechen sich zwei Welten. Sie ist in beiden zu Hause.

Die Linke, im Bild rechts. : ap

Was macht es mit einem Menschen, wenn er sein Leben in zwei unterschiedlichen Systemen unterzubringen hat? Die Kindheit im realen Sozialismus mit den Idealen von Kollektivismus, zentralistischer Planung und einer auf unerschütterlichen Geschichtsgesetzen gebauten Siegesgewissheit; die Jugend dagegen im realen Kapitalismus, dem säkularen Utopia von Besitzindividualismus, Differenz und unbegrenzter Ellenbogenfreiheit?

Die Dresdenerin Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, war zur Wendezeit kaum zwölf Jahre alt. „Bei mir fielen der politische Umbruch und die Pubertät zusammen“, sagt sie.

Ein bisschen wirkt sie mit ihrem zum Markenzeichen gewordenen roten Haar immer noch wie eine Adoleszente, auch wenn gerade der Kinderwagen mit ihrer Tochter aus ihrem Berliner Bundestagsbüro herausgeschoben wird. „Und was mich zu dem Zeitpunkt fast mehr beschäftigt hat, sind also die Sachen, die einen halt in der Pubertät beschäftigen.

Persönlichkeits-Check

Reihe: Der Sozialpsychologe und Führungskräftecoach Dr. Christian Schneider trifft für die sonntaz Protagonisten der kommenden Politikergeneration. Was treibt sie an? Wie ticken sie? In der Reihe geht es - einmal im Monat - um die persönliche Tauglichkeit der Entscheider von morgen. Im Mai: Carsten Schneider, SPD-Finanzpolitiker. Teil eins über den Grünen Boris Palmer ist nachlesbar unter taz.de/diagnose1

Autor: Christian Schneider lebt in Frankfurt am Main. Promovierte bei Oskar Negt. Lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel. Forschung zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus und zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust. Richtet nun sein Augenmerk auf die Zukunft und will wissen, was auf uns zukommt, wenn eine neue Politikergeneration nach der übernächsten Bundestagswahl 2017 dieses Land führt.

Politikerin: Katja Kipping, 34, Vizechefin der Linkspartei. Wird auch als Option für den neu zu wählenden Parteivorsitz gehandelt. Im Bundestag sozialpolitische Sprecherin der Linken und Chefin des Sozialausschusses.

Also: welche Musik hört man, was zieht man für Sachen an?“ Auf die Nachfrage: welche Musik? registriere ich bei ihr erstaunt eine kleine Schamreaktion. „Ganz schrecklich, also so geschmacklich. Was halt so kam bei elf99, also Milli Vanilli, das hat mich fasziniert, damals.“ Und nach einer Pause: „Also mit einem Lied von Milli Vanilli begann auch die kulturelle Wende.

Wow, denke ich, kulturelle Wende mit Milli Vanilli! – was würden dazu wohl die mit Brecht, Ernst Busch und den „Moorsoldaten“ großgewordenen Altvordern ihrer Partei sagen? KK nervt es, wenn sich die linken Traditionalisten zum Beispiel über sprachliche Anglizismen mokieren – und sie rät ihnen, mal wieder Marx zu lesen, der großzügig vom Englischen Gebrauch gemacht hat.

Loyalität ist auch persönlich

Diesen und andere spannende Texte lesen sie in der aktuellen sonntaz vom 21. und 22. April. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.

Doch sie ist loyal, zeigt sich beeindruckt von Leuten, die sich in der DDR engagiert haben und nun im Rückblick feststellen müssen, dass ihre Lebensleistung nicht nur öffentlich diskreditiert ist, sondern auch von ihnen selber als Fehler gesehen werden soll. Offenkundig spielt bei dieser Loyalität Persönliches mit hinein. In ihrer Familie, sagt sie, hätte es zu DDR-Zeiten kontroverse Positionen zu Staat und Partei gegeben. Aber sich zu engagieren, sei doch etwas Gutes, selbst wenn es im falschen Kontext geschehe. Oder?

Engagement ist ein Schlüsselwort. Schon die 14-jährige Katja hat sich im PDS-nahen Verein „Roter Baum“ in der Jugendarbeit engagiert; und nun, als Modernisiererin, für eine „Neuausrichtung der Linken“. Das ist freilich eher Altenarbeit in einer Partei, deren Mitglieder im Durchschnitt über 60 Jahre alt sind. Viele gelten als unbelehrbare Ostalgiker. Kippings Versuch einer Erneuerung linker Politik ist ein Generationenprojekt. Das ist ihre Chance, aber auch ihr Los. Ihr ist das Klischee vom „Postergirl der Linken“ aufgeklebt. Sie ist das frische junge Gesicht der überalterten Partei, das Exempel einer modernen ost-westdeutschen Patchwork-Biografie: klug, hübsch, lebenslustig, umweltorientiert und feministisch, kurz, Hoffnungsträgerin für einen Sozialismus, der nicht mehr automatisch mit Maiparade, Schalmeien und muffigem Neo-Kleinbürgertum assoziiert wird.

So sagen die einen. Die oft außerhalb der Partei stehen. Manche ihrer Genossinnen dagegen denunzieren sie als „reformistisch“. Seltsam, wenn man ihre politischen Ziele kennt: Moderne linke Politik heißt für sie vor allem, einen Arbeitsbegriff gesellschaftlich durchzusetzen, der „Reproduktionsarbeit“ in der Familie, politisch-öffentliches Engagement und Arbeit an der eigenen Persönlichkeit genauso bewertet wie die Erwerbsarbeit. Dafür sei eine radikale Verkürzung der Berufsarbeit auf 20 Wochenstunden notwendig. Auf der Basis eines Grundeinkommens für alle. Reformismus? Der alte Marx wäre zufrieden damit.

An einer Gestalt wie Katja Kipping brechen sich die Wogen zweier politischer Weltmeere. Und sie steht mittendrin, mit Charme, entschieden in ihren Optionen, aber, wie es scheint, immer noch ambivalent gebunden an eine Vergangenheit, die kaum ihre eigene ist. Unverhofft tauchen in ihrer unprätentiösen Rede Sprachinseln aus dem linken Altsprech auf: Da werden „ideologische Entscheidungen“ getroffen, „dialektisches Denken“ wird gefordert, der Nationalsozialismus in „Hitlerfaschismus“ umgetauft – und natürlich gilt es den „antifaschistischen Kampf“ voranzutreiben.

Dem Gefühl nach immer „beides“

Mitten im Gespräch falle ich in ein symbolisches Loch, erlebe so etwas wie eine Derealisierung: Wer ist das eigentlich, die da so redet? So sympathisch, so überzeugt und überzeugend, so zweifelsfrei in ihren Anschauungen? Irgendetwas lässt mich den Boden verlieren. Mir geht durch den Kopf, mit wem ich jetzt sprechen würde, hätte die DDR weiter existiert. Also frage ich. Die Antwort kommt ohne Zögern. Sie könne sich beides denken: zum Beispiel als Teil der Umweltbewegung zur Dissidentin geworden zu sein. Aber mit Blick auf ihr Elternhaus könnte sie sich so ein gedachtes Leben auch gut als FDJ-Leiterin vorstellen, „einfach, weil ich die Arbeit so toll fand“. Es ist eine ehrliche Antwort. Sie macht mir klar, was mich so unerwartet aus dem Gespräch fallen ließ. Katja Kipping könnte nach meinem Gefühl immer „beides“ sein.

Zwischen Schule und Studium hat sie ein freiwilliges Jahr in Russland verbracht, dem Land, mit dem sie eine tiefe Liebe verbindet. Danach war sie längere Zeit in den USA. Keine Frage, sie schaut sich die Welt und ihre Gegensätze genau an, sie entscheidet nicht blind. Und doch scheint Katja Kippings Grundentscheidung immer schon getroffen. Ich spüre bei ihr eine tiefsitzende unbewusste Loyalität, die all ihre wohl durchdachten Entscheidungen ebenso unmerklich wie nachhaltig grundiert und steuert. Das Projekt Sozialismus ist familiäres Erbe – und in ihrem Leben nach dem „realen“ Sozialismus superschnell umgesetzt.

Mit 21 wird sie Stadträtin in Dresden, noch im selben Jahr Landtagsabgeordnete. Im Bundestag sitzt sie seit 2005, 2007 wird sie stellvertretende Parteivorsitzende: eine Blitzkarriere. Jetzt ist sie 34. Und hat noch viel vor. Diese Partei zu modernisieren ist wahrhaftig Sisyphusarbeit. Es ist ihr, der versierten Netzwerkerin, zuzutrauen. Aber lohnt es? Sie sagt es offen: Ihr Privatleben möchte sie für ihre politischen Ambitionen nicht opfern. Die Familie ist ihr wichtig. Das sei auch der Grenzpunkt ihrer Karrierepläne. Denn ab einer bestimmten Ebene habe „man keinerlei Verfügung über den eigenen Kalender: Ich glaube, da hätte ich keine Freude am Leben mehr.“

Grundeinkommen wäre persönliches Opfer wert

Und wenn ihr 2017 in einer rot-grün-roten Regierung das Arbeitsministerium angeboten würde? Sie zögert. „Alles in mir würde sagen: ’Nein, um Gottes willen.‘ Es gibt einen Punkt, wo ich schwach werden würde. Wenn ich mit diesem Amt die Einführung des Grundeinkommens wirklich befördern könnte, dann, würde ich sagen, ist es der Erfolg eines Lebenswerkes wert, so einen starken Einschnitt in den eigenen Lebensgenuss in Kauf zu nehmen.“

Wie auf Stichwort geht die Tür auf und der Kinderwagen wird hereingeschoben. Katja Kipping lächelt, ganz Mutter. Aber gleich ist Ausschusssitzung. Wir verabschieden uns, sie wirkt, als wäre sie gedanklich schon woanders. „Lebenswerk“ und „Lebensgenuss“ – ihre Worte gehen mir auf dem Weg aus dem Paul Löbe-Haus nach. Das eine klingt mir zu groß, das andere zu steif. Beiden fehlt irgendwie – die Lebendigkeit: sie scheinen mir wie Aufträge, die zu erfüllen sind.

Aus meiner Praxis weiß ich: Je höher der erworbene Status, desto mehr wird er als Identität erlebt. Da bleibt alles andere leicht auf der Strecke. Aber vielleicht versucht gerade diese Frau auch hier beides. Es stünde ihr.

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