Katharina Schipkowski über anlasslose Polizeikontrollen in der S-Bahn: Grundrechte auf dem Abstellgleis
Ein Grundsatz des Rechtsstaats ist: Wer nichts anstellt, den lässt die Polizei in Ruhe. Aber in der Berliner S-Bahn gilt das jetzt nicht mehr: Dort kann die Polizei seit dem 1. November bis Ende Januar völlig anlasslos jeden kontrollieren, ohne dafür irgendeinen Verdacht äußern zu müssen.
Mittels einer Allgemeinverfügung hat die Bundespolizei alle S- und Fernbahnhöfe und Züge zwischen dem Zoologischen Garten und Lichtenberg zur Waffenverbotszone erklärt, die sie kontrollieren will. Auch „gefährliche Werkzeuge“ und Gegenstände, die normalerweise nicht unter das Waffengesetz fallen, wie Taschenmesser, Pfefferspray oder Korkenzieher sind verboten – wer sich widersetzt, muss mit 250 Euro Zwangsgeld rechnen.
Es ist mitnichten das erste Mal, dass die Polizei auf diese Art Grundsätze der Strafverfolgung umkehrt, indem sie eine mögliche Gefahr vorwegnimmt und schon vorher eingreift. In Berlin ist es die zweite Runde eines Testlaufs, bei dem im Juni für ein Wochenende die S-Bahn zur Kontrollzone wurde. Es steht aber auch für einen bundesweiten Trend, in dessen Rahmen die Befugnisse der Polizei ausgebaut werden und mehrere Bundesländer ihre Polizeigesetze novellieren.
Dabei zeigt sich ein Paradigmenwechsel: Es zählt nicht, ob man sich etwas zuschulden kommen lassen hat, sondern wo man sich aufhält und wie man aussieht. Denn wessen Personalien und Rucksack die Beamt*innen überprüfen, entscheiden sie nach „Augenmaß und gesundem Menschenverstand“, wie ein Sprecher sagte. Die Polizist*innen müssen ihr Vorgehen auch im Nachhinein nicht begründen, denn sie haben ja eine Pauschalerlaubnis.
Das ist besorgniserregend, weil sich das Vorgehen der Polizei nicht mehr an Fakten oder zumindest konkreten und begründbaren Verdachtsmomenten orientiert, sondern an weitgefassten Formalia. Ein Beamter muss nicht mehr abwägen und erklären, warum sein Einschreiten gerechtfertigt ist. Das ist ein enormer Verlust an Souveränität der Bürger*innen gegenüber dem Staat. Außerdem öffnet es Racial Profiling Tür und Tor. Es dürfte klar sein, dass die anlasslosen Kontrollen besonders junge männliche Migranten treffen werden.
Solche Maßnahmen, mit denen Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, denkt sich die Polizei nicht aus, weil mal jemand einen fiesen Tag hat. Sie reagiert vielmehr auf einen gesellschaftlichen Diskurs – einen Angst-Diskurs, der von rechts außen befeuert wird und für Migrant*innen zunehmend bedrohlicher wird. Gleichzeitig verstärkt sie diesen Diskurs. Die Leidtragenden sind weder „nur“ Migrant*innen noch „nur“ S-Bahn-Fahrer*innen oder Menschen, die zufällig ein Taschenmesser dabeihaben, sondern die freiheitliche Gesellschaft.
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