Katarina Barley über Rechtspopulismus: „Es gibt keine Brandmauer“
Durch erstarkte Rechtspopulisten sei die Stimmung im EU-Parlament aggressiver geworden, sagt Katarina Barley. Vor allem Frauenrechte hätten es schwerer.
taz: Frau Barley, im EU-Parlament sitzen mittlerweile drei rechtspopulistische und rechtsextreme Fraktionen. Wie hat sich die Atmosphäre verändert, seit Sie vor fünf Jahren dessen Vizepräsidentin geworden sind?
Katarina Barley: In der vergangenen Legislatur gab es eine rechtspopulistische Fraktion und viele rechte Abgeordnete, die vereinzelt in den hinteren Reihen des Parlaments saßen oder gar nicht erst erschienen sind. Jetzt sitzen alle drei rechten Fraktionen in einem Block. Die Atmosphäre ist viel aggressiver geworden. Die Rechten kommen mit einer ganz neuen Haltung daher, einem völlig neuen Selbstbewusstsein.
taz: Woran zeigt sich das?
Barley: Sie bereiten sich vor, vernetzen sich und versuchen die parlamentarischen Debatten zu kapern. Sie feuern sich gegenseitig an und versuchen liberale oder progressive Inhalte lächerlich zu machen und zu sabotieren. Klar, vereinzelt sind sie verschiedener Meinung. Aber das Autoritäre, Antidemokratische, Antifeministische teilen alle. Und das bringen sie mit ganz anderer Wucht ein als zuvor.
Jahrgang 1968, ist Juristin und seit 1994 Mitglied der SPD. Sie war Generalsekretärin ihrer Partei, Frauen- und Familienministerin sowie Justizministerin. Seit Juli 2019 ist sie Abgeordnete des EU-Parlaments und eine von dessen vierzehn VizepräsidentInnen.
taz: Zum Beispiel?
Barley: Wir bereiten im Parlament momentan die Anhörungen der neuen KommissarInnen vor. Gerade habe ich erfahren, dass im Ausschuss für Frauenrechte die Frage nach der Position zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen gestrichen wurde – allein schon die Frage. Beschlossen wurde das mit den Stimmen der drei rechten Fraktionen und der Konservativen, die zusammen eine Mehrheit haben. Es gibt hier keine Brandmauer.
taz: Haben Sie mit dieser Entwicklung gerechnet?
Barley: Natürlich hat es sich abgezeichnet. Wir als Parlament haben im Juni 2021 zum Beispiel den Matic-Report verabschiedet, der die Mitgliedstaaten der EU auffordert, den freien und sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung brach ein Tsunami aus rechtem Lobbying über uns herein. Wir Abgeordneten hatten tausende fast gleichlautende E-Mails gegen den Report in unseren Postfächern, Briefe, Anrufe, einen offensichtlich orchestrierten Shitstorm. Die Konservativen sind damals mehrheitlich eingeknickt. Den Report haben wir nur mit viel Überzeugungsarbeit und Frauensolidarität durchgebracht. Mit den aktuellen Kräfteverhältnissen würden wir das nicht mehr schaffen. Jetzt tritt ein, wovor wir die ganze Zeit gewarnt haben.
taz: Ist das, was Sie beschreiben, der Rechtsruck – oder ist das konkret Antifeminismus?
Barley: Es gibt keine rechtsextreme Bewegung, die nicht antifeministisch ist. AntifeministInnen vertreten die These, dass Frauen und Männer nicht gleichwertig sind, ganz zu schweigen von gleichberechtigt. Deren Weltbild zufolge führen biologische Unterschiede dazu, dass es auch berufliche und gesellschaftliche Unterschiede geben muss. Frauen wird das Recht verwehrt, selbst zu bestimmen, was für ein Leben sie führen möchten. Ähnlich machen sie auch gegen andere Personengruppen mobil.
taz: Und das ist jetzt im EU-Parlament angekommen?
Barley: Die Strukturen und Organisationen, die an einem geschlechterpolitischen Rollback arbeiten, existieren seit Jahrzehnten. Die katholische Kirche spielt eine große Rolle, viele konservative und rechte Parteien beziehen sich auf deren Inhalte. Schon in der vergangenen Legislatur haben die Rechten versucht, den Begriff „Gender“ aus jedem Dokument zu streichen, das sich mit dem Thema beschäftigt. Wörter verschwinden aus dem politischen Raum. Ich war mir der Dimension des Problems selbst lange nicht bewusst. Aber wir müssen uns darüber klar werden, was das für ein Gegner ist.
taz: Von wem kamen denn die E-Mails, mit denen Ihre Postfächer geflutet wurden?
Barley: Unter anderem von einer spanischen Kampagnenorganisation namens Citizen Go. Die haben Unmengen von E-Mail-Adressen, über die sie Petitionen lancieren. Deren Ansprache leuchtet erst mal ein, es geht zum Beispiel um Kinderschutz – und wer will den nicht? Aber das ist unglaublich manipulativ. Kinderschutz wird letztlich dazu genutzt, gegen Abtreibung mobil zu machen: Hey, wenn du für Kinder bist, dann unterstütze doch die Petition gegen den Matic-Report! So läuft das.
taz: Woher kommen deren Gelder?
Barley: Citizen Go tarnt sich als Graswurzelbewegung und sammelt Kleinspenden ein. Andere werden von russischen Oligarchen finanziert. Die geben generell viel Geld in antifeministische Organisationen und Strukturen. In den USA kommen viele Gelder von Evangelikalen. Betsy DeVos, die Bildungsministerin unter Donald Trump, hat eine millionenschwere Stiftung, mit der sie den Rollback unterstützt. Zudem ziehen rechte Parteien derzeit einige Großspender an.
taz: Was bedeutet das für klassische Volksparteien wie Ihre?
Barley: Die Situation ist ja nicht ganz neu, die FDP etwa hatte schon immer mehr Spenden als wir. Aber durch die Rechtsextremen bekommt das eine ganz neue Schlagseite. Die wollen nicht innerhalb des demokratischen Spektrums Meinungen beeinflussen – die wollen raus aus dem Spektrum. Nun haben sie Ressourcen, Leute zu beschäftigen, die bestimmte Spins kreieren wie die Mobilisierung gegen „Genderwahn“ – oder eben gegen den Matic-Report. Das frappierendste Beispiel in dieser Hinsicht ist für mich der Begriff „woke“.
taz: Inwiefern?
Barley: Mein wundervoller, liberaler, fast 90-jähriger Vater benutzt diesen Begriff und sagt, Wokeness finde er doch irgendwie komisch. Mein Vater ist Brite, er weiß, dass dieser Begriff ursprünglich positiv besetzt ist, dass er wach oder aufgeweckt bedeutet. Aber dieser Begriff wurde total verhetzt – bis ins kleinste Dorf, bis in jede Generation. Dafür bedarf es viel Aufwand.
taz: Was heißt all das für Frauenrechte in dieser Legislatur?
Barley: Für Sexualaufklärung wird es schwierig, für Abtreibung sowieso. Es kann sein, dass das Parlament offiziell frauenfeindliche Positionen einnimmt und in der Gesetzgebung verhandeln muss. Schlimmstenfalls wären Szenarien denkbar, in denen die EU aus der Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt gegen Frauen aussteigt. Einzelne Länder haben das schon angekündigt. Vor allem im Osten Europas wird die Konvention als Instrument gegen die sogenannte traditionelle Familie aufgefasst, was völlig absurd ist.
taz: Kann es wirklich so weit kommen, dass die EU aussteigt?
Barley: Giorgia Meloni hat neulich gesagt, private Gewalt sei privat. Sie sehen, wo das hinführt.
taz: Welche Rolle spielt Ursula von der Leyen, die sich rechts offen zeigt?
Barley: Sie allein ist nicht die entscheidende Figur.
taz: Ihr Einfluss ist groß. Einen Passus zu Schwangerschaftsabbrüchen hat sie schon mal unter den Tisch fallen lassen, um die eigene Mehrheit zu sichern.
Barley: Das stimmt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Wer das versucht, macht das Problem nur größer, das haben wir im Fall von Ungarn gesehen. Von der Leyen hat versucht, Orbán einzufangen, indem sie ihm entgegenkam. Orbán hat das als Aufforderung verstanden, noch unverschämtere Forderungen zu stellen. Daraus hat sie gelernt. Trotzdem: Es geht vor allem um Rat und Parlament und die Frage, welche konkreten Gesetzesvorschläge kommen und wie die einzelnen Abgeordneten abstimmen. Die sind im EU-Parlament ja freier als etwa im deutschen.
taz: Was können Sie tun?
Barley: Das Wichtigste ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was passiert – inner- und außerhalb des Parlaments. Wir erleben einen Kampf gegen die Demokratie. Letztlich soll nicht mehr der Staat die Regeln machen, sondern Familie und Kirche. Das geht damit einher, dass nicht nur Frauenrechte, sondern generell Menschenrechte eingeschränkt werden. Und es endet bei Attacken auf freie Presse und unabhängige Justiz. Wenn das so weiter geht, erleben wir einen massiven Rollback: bei Frauenrechten, im Klimaschutz, bei Menschenrechten. Der Schutzstandard etwa für trans Personen oder MigrantInnen in der EU kann sich rapide verschlechtern.
taz: Noch mal: Was tun?
Barley: Parlament und Kommission ergreifen Strafmaßnahmen gegen Regierungen, die gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, auch finanzielle.
taz: Das passiert zum Teil recht zögerlich.
Barley: Die Kommission schöpft ihre Rolle nicht immer in dem Umfang aus, in dem ich mir das wünschen würde. Aber wir schützen Meinungsvielfalt, stärken demokratische AkteurInnen, kämpfen gegen Desinformation. Nur: All das reicht nicht. Ich hoffe, dass sich mehr Menschen die Konsequenzen bewusst machen. Wenn der Nachbar wieder mit dem „Genderwahn“ anfängt, hoffe ich, dass eingeschritten wird. Ich möchte alle adressieren, jede und jeden Einzelnen. Ich weiß, das kann nicht jeder, dafür habe ich Verständnis. Aber überall, wo menschenverachtendes Gedankengut hochkommt, sei es am Arbeitsplatz, in der Familie, im Verein, braucht es einen mutigen Menschen, der sagt: Hörst du dich eigentlich reden? Was für einen Unsinn erzählst du da?
taz: Das kann doch nicht nur die Zivilgesellschaft leisten, das muss doch Aufgabe von Politik sein.
Barley: Es ist genuine Aufgabe von Politik, für unsere demokratischen Werte zu kämpfen. Ich mache das seit Jahrzehnten, beruflich wie politisch. Aber wir schaffen das nicht mehr alleine. Diese antidemokratischen Strömungen sind tief eingesickert in die Gesellschaft. AntidemokratInnen diskutieren nicht mehr mit uns. Aber genau das müssen wir tun: das Gespräch suchen, im Gespräch bleiben. Wir müssen als Gesellschaft wieder miteinander reden.
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