Karibik-Tourismus in der Coronapandemie: Schnelle Erholung nicht in Sicht
Die Coronakrise deckt auf, dass das tourismusfixierte Entwicklungsmodell eine Einbahnstraße ist. Das fällt vielen Inseln auf die Füße.
D ie Nachricht war dem kubanischen Tourismusminister Juan Carlos García einen Tweet wert. „Auf Cayo Santa María und Cayo Coco vergnügen sich die ersten internationalen Touristen nach der Wiedereröffnung der Grenzen“, postete der Minister erleichtert am 1. August. Vier Wochen hatten die Verantwortlichen im Ministerium auf diese Nachricht gewartet, denn seit dem 1. Juli dürfen internationale Besucher die größte der Antilleninseln wieder besuchen – wenn auch vorerst nur einige wenige Ziele. Darunter die vorgelagerten Inseln, Cayos, im Zentrum Kubas. Die warten mit allem auf, was die Karibik zu bieten hat: lange Stege, die ins türkisfarbene Meer führen, feine Standstrände und reichlich Musik, die in die Hüfte geht.
Mit einem mächtigen Damm, der eine spektakuläre Anfahrt garantiert, ist Cayo Santa María ausgestattet, während Cayo Coco sogar direkt angeflogen werden kann. Gärten des Königs, Jardines del Rey, heißt der kleine internationale Airport. Zum Symbol des touristischen Re-Starts soll er in Kuba werden.
Nach mehr als vier Monaten ohne internationale Besucher versucht nicht nur Kuba den touristischen Neuanfang unter Infektionsschutzbedingungen. Die ersten Gäste Kubas kommen von den Bahamas, in Costa Rica wurden Anfang August die ersten Europäer begrüßt und auf die Gäste aus der alten Welt hoffen auch die Verantwortlichen in Havanna.
Die Hauptstadt der größten Antilleninsel ist noch ausgenommen von dem Dreiphasenmodell, das Gesundheits- und Tourismusexperten für die Insel entworfen haben, um das Virus unter Kontrolle zu halten. Die offiziellen Zahlen von 2.726 Infizierten und 88 Toten sind im Vergleich mit dem großen Konkurrenten Dominikanische Republik (74.300 Infizierte/1.213 Tote) positiv. Das soll so bleiben, und die Tourismusverantwortlichen in Havanna werben mit ihrem flächendeckenden Gesundheitssystem und rigorosen Kontrollen um die devisenbringenden Besucher.
Die Abhängigkeit von Tourismus
Unstrittig ist aber auch, dass die ökonomische Abhängigkeit vom Tourismus die gesamte Region vor immense Probleme stellt. Rund 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen in Kuba auf den Tourismus, in der Dominikanischen Republik sind es 15, in Jamaika 30 und in Inselstaaten wie den Bahamas, St. Lucia oder Antigua und Barbuda pendeln die Werte zwischen 50 und 90 Prozent. Harte Fakten, die erst klarmachen, was hinter den Hochglanzbildern „unberührter“ Strände, Palmenhainen und türkisblauen Wassers steckt, die die Karibik längst zum Sehnsuchtsspot des globalen Tourismus gemacht haben.
Schnelle Erholung ist jedoch nicht in Sicht, so der kubanische Sozialwissenschaftler Pavel Vidal: „Nach Krisen wie dem 9. September 2001 oder der Lehman-Pleite 2008 dauerte es mindestens 18 Monate, bevor sich die Besucherzahlen erholten“, sagt Vidal. Schlechte Aussichten für die kommende wichtige Hauptsaison, wo Kanadier, US-Amerikaner, aber auch Europäer gern Weihnachten unter Palmen feiern.
Fieberhaft wird deshalb an Hygienekonzepten, Abstandsregeln und Co gearbeitet, um keinen Totalausfall verbuchen zu müssen. Mit 60 Prozent Mindereinnahmen rechnet Vidal trotzdem für Kuba im Jahr 2020 und lässt durchblicken, dass er kein Freund der Entscheidung ist, den Tourismus mehr und mehr zur Lokomotive der Inselökonomie zu machen. Das rächt sich mitten in der Pandemie, und in Havanna ist das offensichtlich.
Hotel Grand Packard steht in goldenen Lettern an der Glastür, die den Eingang zum Fünfsternehaus am Paseo del Prado versperrt. Die Flaniermeile gleich um die Ecke von Havannas berühmter Uferpromenade Malecón ist ein moderner, etwas klotzig anmutender 321-Zimmer-Palast und wurde von Präsident Miguel Díaz-Canel eingeweiht. Mehr als ein Indiz dafür, dass seine Regierung auf das Konzept von Sonne und Strand, Sol y Playa, setzt und dabei mehr und mehr zahlungskräftige Besucher aus dem Ausland im Visier hat. Vier Luxushotels im Zentrum der Stadt, drei davon nagelneu, zeugen davon, und klar ist auch, dass dafür nicht nur ausländisches Geld verbaut wurde.
Jetzt blinkt die Botschaft „kein Reisezeitraum verfügbar“ beziehungsweise „Vorübergehend geschlossen“ den potenziellen Kunden auf den Webseiten der beiden Hotels entgegen. Wann die Gesundheitsbehörden grünes Licht geben, steht in den Sternen. Sehr vorsichtig agieren die Behörden, die momentan ein bis zwei Dutzend Neuinfektionen täglich registrieren und das Virus derzeit weitgehend unter Kontrolle haben.
Finanzen außer Kontrolle
Außer Kontrolle sind hingegen die Finanzen der Regierung, denen die einseitige Ausrichtung auf den Tourismus mitten in der Pandemie auf die Füße fällt. Kein Einzelfall in der Region, die nicht nur die Abhängigkeit von den sonnenhungrigen Besuchern derzeit zu spüren bekommt, sondern auch die von Importen.
Vieles von dem, was die Touristen in Kuba konsumieren, wird importiert. Nahrungsmittel von der Insel kommen nur partiell auf den Tisch, obwohl Püree aus Malanga, Yucca oder Boniato kombiniert mit frischem Fisch in der kubanischen Küche zuletzt eine Renaissance erlebte. Die kartoffelähnlichen, überaus aromatischen Knollen sind nur ein Beispiel dafür, dass weder die Tourismusmanager noch die Verantwortlichen im Agrarministerium ihre Hausaufgaben gemacht haben. Mit Brot aus Yucca in Ermangelung von Mehl wird genauso experimentiert wie mit Essig aus Orangen. 70 bis 80 Prozent der konsumierten Kalorien auf der Insel werden per Container aus den USA, Brasilien, Frankreich oder anderen Ländern herangekarrt.
Ein Handicap, das seit Dekaden bekannt ist, an dem sich aber erst mit der Versorgungskrise, die Kuba derzeit prägt, etwas ändern soll. Die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten ist ein regionales Phänomen. Obendrein werden die Appelle an die Bauern, ihre Produktion auszubauen, lauter. Für Pavel Vidal beileibe nicht genug.
„Acopio“, so der Name des staatlichen Ankaufssystems für Agrarprodukte, heißt die systemimmanente Bremse. Die könnte nach der Ankündigung vom 16. Juli von Wirtschaftsminister Alejandro Gil fallen: Privaten, genossenschaftlichen und staatlichen Akteuren soll dadurch mehr Autonomie zugebilligt werden. Daran wagen erfolgreiche Bauern wie Fernando Funes kaum zu glauben.
Der 48-jährige Agrarwissenschaftler, der vor knapp zehn Jahren den Lehrstuhl mit dem eigenen Biohof vertauscht hat, ist das beste Beispiel dafür, wie sich Landwirtschaft selbst in Kuba lohnen kann. Gemüse en gros wird für die Nachbarschaft, aber auch für Restaurants in Havanna, auf der schmucken, mit vielen Hochbeeten ausgestatteten Farm 35 Kilometer vor Havanna gezogen. Ein weiteres Standbein ist die Honigproduktion und die touristische Verköstigung ein- bis zweimal pro Woche auf der Finca Marta. Das Dreipfeilermodell funktioniert. Noch wichtiger auf der Insel der rigiden Vorgaben ist, dass es vollkommen legal ist.
Funes, ein zupackender, pfiffiger karibischer Sonnyboy, ist dabei, den Nachbarn sein Anbaukonzept einzutrichtern, ländlichen Tourismus zu propagieren. Er hat einen beachtlichen Trumpf im Ärmel: Ein halbes Jahr vor seinem Tod hat er Fidel Castro auf der Finca Marta empfangen. Das war wohl die letzte Landpartie des Comandante en Jefe, des Oberbefehlshabers, wie Fidel in Kuba zeitlebens genannt wurde.
Die Visite der Galionsfigur der kubanischen Revolution sorgt dafür, dass Funes mittlerweile sogar etwas Land vom Staat erhalten hat, um sein Agrarmodell auf Viehhaltung auszudehnen. Für ihn ist die geringe Produktivität der kubanischen Landwirtschaft jedoch nur das eine Problem. „Das andere ist die Tatsache, dass rund 50 Prozent der Produktion verloren geht – auf den Feldern wegen mangelnder Transportmöglichkeiten vergammelt oder nicht rechtzeitig zum Markt oder Warenhaus gelangt.“
Tobago ist infektionsfrei
Das sind Defizite, die sich in Kuba in langen Schlangen vor den Geschäften bemerkbar machen, worunter aber auch die Inselstaaten in der Nachbarschaft leiden. Die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten ist ein regionales Phänomen – auf den Bahamas genauso wie in Tobago, der Urlaubsinsel oberhalb von Trinidad. „Früher haben wir Kakao, Kokosfasern für Matratzen, Zucker und Grundnahrungsmittel produziert“, erzählt Wayne Kennedy, Tourismusführer zwischen Buccoo und Scarborough, der Hauptstadt Tobagos. Von all dem ist wenig geblieben, Hurrikans und der Tourismus haben daran vieles verändert, so Kennedy, der derzeit nichts zu tun. „Die Grenzen sind zu, es gibt nicht einen Touristen auf Tobago, aber zum Glück auch keinen einzigen Infektionsfall“, sagt er.
Folgerichtig wird bereits an Werbekonzepten gebastelt, um Tobago als ideale „Post-Covid-19 Destination“ in Szene zu setzen. Die Insel bietet dafür alles Nötige: Pigeon Point, der Strand inklusive malerischer Bootssteg aus der Bacardi-Werbung, die Unterwasserwelt lädt zum Schnorcheln ein und Regenwald zum Wandern gibt es auch. Dazu gehört auch das „Liming“, das gepflegte Abhängen, in Tobago.
Sieben der fünfzehn Mitglieder der Karibischen Gemeinschaft Caricom importieren das Gros ihrer Lebensmittel. Spitzenreiter sind die Bahamas mit einer Importquote von über 90 Prozent. Diese Abhängigkeit wird gepaart mit dem Wegbrechen von Bade- und Jachttourismus zum Bumerang, lässt das tourismusbasierte Entwicklungskonzept in der Sackgasse enden.
„Food Security“, Nahrungsmittelsicherheit, ist angesichts wachsender Besucherzahlen in den Traumdestinationen der Region ins Hintertreffen geraten. Die Pandemie deckt die externe Abhängigkeit unbarmherzig auf, und bereits jetzt ist klar, dass der Tourismus erst mit dem laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) frühestens für Dezember zu erwartenden Impfstoff wieder richtig anspringen wird, so Entwicklungsexperten wie Manuel Orozco vom Interamerican Dialogue.
Der Interamerican Dialogue engagiert sich für demokratische Strukturen und Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik und hat jahrelang dafür geworben, Einnahmen aus dem Tourismus, aber auch die Geldsendungen von Familienangehörigen aus dem Ausland, Remesas genannt, produktiv zu investieren und nicht ausschließlich in den Konsum zu stecken.
Die Remesas bilden einen weiteren wichtigen Eckpfeiler der Inselökonomien der Karibik. Sie sind in Haiti für mehr als 20 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) verantwortlich, in Jamaika für 15 Prozent und pendeln in Kuba je nach Quelle zwischen 3 Milliarden und 6 Milliarden US-Dollar. Locker übertrumpfen sie die Gesamtsumme der Exporte.
Die enormen Summen wären laut Orozco besser in Investitionsprogrammen aufgehoben. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Nur knapp 10 Prozent der Remesa-Empfänger hat ein kleines Unternehmen aufgebaut“, kritisiert Orozco, dessen Eltern aus Nicaragua in die USA einwanderten. Für ihn ist das ein weiterer Grund, weshalb die Inselökonomien der Karibik gleich doppelt von den Folgen der Pandemie erwischt werden.
Angehörige in den USA, Großbritannien oder Spanien, die regelmäßig Geld in ihre Herkunftsstaaten transferieren, gehören oft zu den Ersten, die entlassen werden oder weniger arbeiten können. Parallel dazu schrumpfe die Summe, die sie ihrer Familie über Western Union, Money Gram und andere Finanzdienstleister anweisen, wie Butter in der Sonne. Um mindestens 20 Prozent werden, so eine Weltbank-Prognose, die Remesas im Laufe des Jahres zurückgehen. Das wird immense soziale Folgen haben, denn der Geldtransfer wirkt wie ein Regenschirm der sozialen Abfederung. Der bekommt nun Löcher und parallel dazu wird Investitionskapital in den Empfängerländern knapper.
Vermieter von Urlaubsapartments, Taxifahrer, aber auch die kleinen Nachbarschaftsläden gehen in die Knie. „Das grundsätzliche Problem ist, dass die Coronakrise diese Geschäfte überproportional stark treffen wird. Sie werden kaum Gewinne generieren, Pleiten sind wahrscheinlich und obendrein lebt das Gros der Bevölkerung in den Gesellschaften der Karibik im und vom informellen Sektor“, sagt Orozco. Ohne formale Anstellung, ohne soziale Absicherung, selbstständig und quasi von der Hand in den Mund, heißt das übersetzt.
Großes Handelsdefizit
Zwar ist die rigide Quarantäne, die fast überall in der Karibik verfügt worden ist, seit Anfang Juni der langsamen Lockerung gewichen, aber genau jetzt fehlt es an Startkapital, so Pavel Vidal. „Über 40 Prozent der Kleinunternehmer haben ihre Lizenz für ihre Arbeit auf eigene Rechnung zurückgegeben“, schildert der kubanische Sozialwissenschaftler. Eine tiefe, langanhaltende ökonomische Krise befürchtet er für die größte der Antilleninsel und die gesamte Region. Von einer ökonomischen Talfahrt von mehr als 7 Prozent ging Kollege Orozco bereits im Juni aus, doch die Szenarien haben sich seitdem nicht aufgehellt.
Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass die Regierungen der Region ihre ökonomischen Reaktivierungsprogramme oft zu schmal ausgelegt haben, so Entwicklungsexperte Orozco. „Sie belaufen sich auf rund 3 Prozent des BIPs. Damit kommt man nicht weit, wenn wir von einem ökonomischen Einbruch von mindestens 7 Prozent des BIPs ausgehen“, kritisiert er.
In Kuba ist die Regierung noch nicht einmal in der Lage, diese 3 Prozent aufzubringen. Die US-Handelssanktionen, drückende Auslandsschulden und die lahmende Konjunktur halten die Insel fest im Griff. Auch ein Grund, weshalb Pavel Vidal sich freut, dass es endlich zu strukturellen Reformen in der Landwirtschaft kommen soll. Irgendwann, wenn die sonnenhungrigen Gringos dann wiederkommen, könnten Hotels, Restaurants und Bars mit Produkten hecho en Cuba aufwarten. Yuccabrot, Malangapüree und Cocktailtomaten von der Insel wären ein Durchbruch – sind bisher aber nicht viel mehr als ein schöner Bolero auf die Zukunft.
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