Kandidaten für die Schach-WM: Eine Wunschweltmeisterschaft
Schach-Weltmeister Magnus Carlsen möchte seinen Titel nur gegen Alireza Firouzja verteidigen. Er entwertet damit das Kandidatenturnier in Madrid.
Die Schachwelt blickt noch gespannter als sonst auf das Kandidatenturnier. Diesmal wird nicht nur der Herausforderer von Magnus Carlsen ermittelt. Es droht vor allem, dass der Weltmeister und Weltranglistenerste aus Norwegen gar nicht mehr zur Titelverteidigung antritt, wenn der „Falsche“ in Madrid gewinnt – die kampflose freiwillige Preisgabe der WM-Krone wäre ein Novum in der 136-jährigen Historie des Denksports.
Obwohl es wieder um einen Millionenbetrag bei der WM ginge, zeigte sich Carlsen bereits im Vorfeld gestresst, weil der Weltverband Fide künftig alle zwei statt drei Jahre eine Titelverteidigung anstrebt. Der Dominator auf den 64 Feldern hatte unter anderem deswegen verkündet, dass er seinen Titel kampflos abgeben würde, sollte sich nicht Alireza Firouzja im Kandidatenturnier durchsetzen.
Der vor wenigen Tagen erst 19 Jahre alt gewordene Shooting Star schoss in der Weltrangliste zwischenzeitlich bis auf Platz zwei vor, knackte dabei die Schallmauer von 2.800 Elo-Punkten und gilt als Kronprinz von Carlsen. Das sieht der 30-jährige Champion offenbar genauso und findet nur ein Duell mit ihm reizvoll genug, um sich nochmals monatelang mühevoll auf seinen fünften WM-Gegner vorzubereiten.
In Schachkreisen gibt es vor allem deswegen heftige Diskussionen um den Wettbewerb in Madrid. So meinte Kommentator Anatoli Vitouch im österreichischen Verbandsorgan „Schach-Aktiv“ zu den „absurden Szenarien“, dass es angesichts der „Drohung“ von Carlsen „vernünftiger“ wäre für Firouzja, „lieber Zweiter zu werden“. Dann würde Carlsen ja auf den WM-Kampf verzichten – und Firouzja dürfte gegen den Sieger des Kandidatenturniers um den WM-Titel spielen. „Eine potenziell deutlich einfachere Aufgabe als jene, den bisher in WM-Matches ungeschlagenen Carlsen zu bezwingen“, befindet Vitouch.
Diskussion um russische Teilnahme
Die sportlich perfiden Gedanken erinnern an das kleine Brettspiel „Why First?!“ von Simon Harvard (Pegasus Spiele): Bei dem steht der Taktikfuchs am Schluss ganz oben auf dem Treppchen, der sich am Ende auf Platz zwei manövriert hat.
Nach dem ersten Ruhetag muss sich der aktuelle Weltranglistendritte Firouzja allerdings strecken, um überhaupt Zweiter zu werden: Der gebürtige Iraner, der 2021 unter französische Flagge wechselte, remisierte bisher alle drei Partien und liegt lediglich auf Platz drei zusammen mit Jan-Krzysztof Duda (Polen), Richard Rapport (Rumänien) und Hikaru Nakamura (USA/alle 1,5 Punkte). Am Ende des Feldes folgen der Aseri Teimour Radjabow und der Weltranglistenzweite Ding Liren (China/je 1) in Schlagweite.
Die beiden letzten Herausforderer von Carlsen, Fabiano Caruana (USA) und Jan Nepomnjaschtschi (Russland), führen das achtköpfige Feld mit zwei Punkten an. Um die Teilnahme des Russen Nepomnjaschtschi gab es auch Diskussionen wegen des Krieges in der Ukraine. Er darf mitspielen, weil er sich zusammen mit 40 russischen Großmeistern öffentlich gegen den Ukrainekrieg positionierte.
Der im ukrainischen Kramatorsk geborene Sergej Karjakin, der 2009 unter russische Flagge wechselte, gilt dagegen als glühender Putin-Verehrer und „Kriegstreiber“ – daher fehlt der dritte einstige Carlsen-Herausforderer im Kandidatenturnier. Sollte „Nepo“ das Kandidatenturnier gewinnen, bliebe ihm angesichts der russischen Propagandamaschinerie möglicherweise nur die Flucht aus dem Heimatland.
Egal, wie das Endresultat in Madrid aussehen mag, scheint es aus sportlicher Sicht schon jetzt recht fragwürdig. Obendrein würde Carlsen dem online prosperierendem Schach einen Bärendienst erweisen, sollte er tatsächlich auf den WM-Titel verzichten: Ohne ihn haftet seinem Nachfolger stets der Makel eines Weltmeisters zweiter Klasse an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“