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Kampf um Sirte und Bani WalidLibyscher Regimewechsel, letzter Akt

Die letzten von Gaddafi-Getreuen gehaltenen Städte fallen an die Revolutionäre. Der Blutzoll ist hoch, und je länger gekämpft wird, desto mehr leidet die Bevölkerung.

Kampf um Gaddafis Heimatstadt: Ein Mitglied der revolutionären Truppen in Sirte. Bild: dapd

BERLIN taz | Seit fast vier Wochen versuchen die Revolutionäre in Libyen, die letzten noch von versprengten Gaddafi-Kämpfern gehaltenen Städte des Landes zu erobern. Doch die Einnahme von Sirte am Mittelmeer und Bani Walid südöstlich der Hauptstadt Tripolis gestaltet sich schwieriger und vor allem blutiger als erwartet.

Eine neue Großoffensive auf die noch nicht eroberten Teile Sirtes war am Dienstag im Gange, einen Tag nachdem die neuen Machthaber die "Befreiung" von Bani Walid gemeldet hatten.

Der Einmarsch in Sirte geschah in Zeitlupe. Am 24. September rückten die Truppen des Nationalen Übergangsrats erstmals in der bis dahin 100.000 Einwohner zählenden Stadt ein, die Gaddafi einst zur Vorzeigestadt ausgebaut hatte; am 7. Oktober starteten sie einen als "Endoffensive" deklarierten Großangriff.

Im Laufe der Wochen zogen sie den Belagerungsring immer enger, es flohen immer mehr Zivilisten, und die Lage der noch verbliebenen Bewohner in den eingekesselten Gebieten unter Kontrolle von Gaddafi-Truppen wurde immer verzweifelter. Inzwischen sind weite Teile der Stadt zerstört.

Die Nato stellte ihre Luftangriffe mit Beginn der Rebellenoffensive ein, aber die Kämpfe am Boden blieben mörderisch. Die Gaddafi-Einheiten sind zersplittert und viele ihrer Kämpfer operieren als Scharfschützen aus bereits zerschossenen Häusern heraus. Viele von ihnen sollen Söldner aus anderen afrikanischen Ländern sein, die nichts mehr zu verlieren haben.

Die Revolutionskämpfer verfügen angeblich nicht einmal über Stadtpläne, berichtet ein AFP-Reporter, und tasteten sich Straße um Straße voran. Am Samstag mussten sie sich angesichts heftigen Beschusses zwei Kilometer zurückziehen, bevor sie am Montag erneut vorrückten und die Stadtviertel "Dollar" und "Nummer zwei" beschossen. In Letzterem soll sich die Kommandozentrale der Gaddafi-Kämpfer befinden.

Horrorszenen im Sirter Krankenhaus

Ende letzter Woche schätzte das Hilfswerk Ärzte ohne Grenzen, dass noch rund 10.000 Menschen im eingekesselten Teil Sirtes lebten, "manche davon verwundet und in ihren Häusern gefangen", ohne Strom oder fließendes Wasser. Dieses Gebiet wurde in den Folgetagen intensiv beschossen. Am 8. Oktober hatten die Revolutionskämpfer das städtische Krankenhaus Ibn Sina erobert, einst ein Vorzeigekrankenhaus Libyens.

Helfer und Journalisten, die danach das Krankenhaus besuchten, fanden Horrorszenen vor: unzählige Schwerverletzte mit faulenden Wunden und schweren Traumatisierungen, kein Wasser, Einschusslöcher in Fenstern und Mauern, eine überfüllte Leichenhalle. Von 200 Ärzten war noch einer übrig, dazu gab es einige Dutzend Pflegekräfte am Ende ihrer Kräfte, zumeist aus Asien.

"Gestern und heute kamen viele Kämpfer mit Waffen hinein, überprüften jeden Patienten, keine Ahnung was sie suchten", berichtete der MSF-Nothilfekoordinator für das Krankenhaus, Gabriele Rossi, am vergangenen Donnerstag. "Für uns ist es nicht sicher, hier zu übernachten, also machen wir jeden Abend die zweistündige Reise zurück nach Misurata." Dorthin beziehungsweise nach Tripolis sind inzwischen die meisten Patienten evakuiert worden.

"Säuberung" von Bani Walid

In Bani Walid feierten die Revolutionskämpfer am Montag die Eroberung der Stadt nach sechs Wochen Belagerung. Keine Zivilisten trauten sich auf die Straßen, während die neuen Herren umherzogen, berichteten Journalisten. Die Gaddafi-Truppen, die dort wochenlang ausgeharrt hatten, waren verschwunden; lediglich 30 afrikanische Söldner wurden festgenommen, erklärte Brigadekommandant Seif al-Lafi gegenüber AFP.

"Wir sind dabei, die Stadt zu säubern; wir werden sicherlich welche in den Häusern finden", sagte er und fügte hinzu: "Sie können sich in den Bergen verstecken, in der Wüste außerhalb der Stadt, oder sich Rebellengruppen anschließen, die aus verschiedenen Richtungen anrücken und sich untereinander nicht kennen." Mit anderen Worten: Auch wenn alle Städte gefallen sind, ist der Krieg in Libyen nicht vorbei.

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10 Kommentare

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  • E
    Erik

    Ich stimme mit wolfgang neumann und Korbinian zu.

     

    Die Berichte von Taz sind total beschämend. Taz ist echt ein Pressagentur von NATO.

     

    NATO/USA/England/Frankreich's Krieg war und ist ein Angriffskrieg. Das Land ist von NATO zerstört.

     

    Libya war das meist entwickelte Land von Afrika und auf den UNO Entwicklungsliste war höher als Russland und Brazil. Libya war ein säkulares Land. Bildung war kostenlos für alle und 50+% der Studenten waren Frauen. Die Glaubensfreiheit war das Gesetz.

     

    Jetzt wird das Gold, das Geld, die Naturressourcen, das Wasser von Libya gestohlen. Jetzt ist die Rekolonisierung von Libya, Afrika und den Nahen Osten.

     

    Was ist Taz eigentlich? Unter den Nürnberger Prozess Standards sind Sarkozy, Cameron und Obama schuldig. Wird Taz darüber berichtet?

     

    Was IST Taz eigentlich?

  • WN
    wolfgang neumann

    Die NATO bombt seit 7 Monaten Libyen systematisch in die Steinzeit zurück und hat so radikalislamistische

    Mörderbanden an die Macht gebracht. Ein Kriegsverbrechen reiht sich an das andere, schon über 100000 Menschen wurden von der NATO und den Banden abgeschlachtet. Dieser Krieg ist ein Völkermord am libyschen Volk welches von den sogenannten "Befreiern"

    auf das brutalste terrorisiert wird. Die skandalöse Lügenpropaganda in den westlichen Medien zeigt das wir nicht in einer Demokratie leben sondern von einer dubiosen verbrecherischen Elite regiert werden.

  • N
    napoleon

    na ja

     

    meister knigge,

    nicht jeder der gegen diesen bürgerkrieg und die luftwaffe NATO ist, ist damit für gaddafi. diese vereinfachung mal streichen.

     

    daneben "erobern" die putschisten gar nichts.

    sie besetzen, was vorher durch die luftwaffe umgepflügt wurde. bei 20.000 lufteinsätzen und geschätzen 50.000 bomben und raketen ein volltagsjob.

     

    und so kannst du auch im artikel lesen, dass der gegner nicht besiegt wurde, er ist weg ...

  • M
    Markus

    "Realitätsverlust ist keine kritische Information"

     

    und

     

    die ständige Wiederholung von Lügen ist nicht die Wahrheit.

     

    Die von Ihnen genannten öffentlich rechtlichen Medien verbreiten auch nur Propaganda, nämlich die aus dem Westen.

     

    Letztendlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.

  • N
    Niewiedergrün

    Werter Herr Knigge, wer hier den Realitätsverlust erlitten hat, wird sich noch herausstellen. Aber immer eingedenk der Tatsache, dass immer der Sieger die Geschichte schreibt, dürfen Sie sich natürlich zu den Gewinnern zählen. Gegen die Übermacht, die unsere westlichen Werte dort vermittelt, kann natürlich niemand standhalten. Gegen die Gier nach Öl ist wirklich kein Kraut gewachsen.

    Und schämen muss man sich für unsere Journalisten wegen ihrer mangelnden Zivilcourage.

  • JK
    Johann Knigge

    Realitätsverlust ist keine kritische Information

     

    @Korbinian und alle anderen Gaddafi-Apologeten im Netz

     

    Der von Ihnen angegebene Link "Hinter der Fichte" präsentiert sich wie viele verschwörungstheoretische Websites als Bastion "wahrhaftiger" Berichterstattung. Darunter wird offenbar verstanden, unter Verweis auf "russische Quellen", die nicht genannt werden, ein angebliches Treffen Gaddafis mit verbliebenen Gefolgsleuten als Sitzung der Regierung zu bezeichnen, Durchhalteparolen des gestürzten Diktators als antikolonialistischen Widerstand zu verkaufen und die Eroberung von Bani Walid durch Truppen des Nationalen Übergangsrates abzustreiten.

     

    Gewürzt wird diese stattliche Portion Propaganda und Realitätsverlust mit Drohungen gegen die öffentlich-rechtlichen Medien.

     

    Ich hoffe nur, dass ich weit, weit weg bin, wenn diese "Freiheitskämpfer" jemals woanders etwas zu sagen haben als auf ihren Weltverschwörungs-Websites.

  • M
    Markus

    Gadaffi halt durch! Kämpfe weiter für das lypische Volk und gegen die Nato Aggressoren!

  • S
    Sowasaberauch

    @Bettina

    Nur weil die Nazis Wörter wie Autobahn, Gras oder Apfel verwandten, heisst das nicht das diese Worte, ganz im speziellen in anderen Ländern oder Kulturen, heute von Niedertracht und Barbarei zeugen.

    Und wenn schon schräge Parallelen gezogen werden: Militärisches Grundwissen wär nicht schlecht. Die Wehrmacht war so erfolgreich, weil sie erbarmungslos gegen ihre Gegner und alle weiteren, die auch nur im entferntesten im Verdacht standen, vorging. Terror pur. Die Alliierten besiegten Nazideutschland, weil sie unschuldige Opfer nicht nur billigend in Kauf nahmen, sondern bewusst als Mittel des Terrors einsetzten.

    Deshalb ist es heute auch so viel schwerer, einen Feind wie damals Nazideutschland so komplett zu schlagen.

    Der einzig wirklich gewonnene Krieg der letzten 20 Jahre war in Sri Lanka gegen die Tamiltigers. Und wir wissen alle, wie die Sri Lankische Armee diesen Krieg gewann.

  • K
    Korbinian

    Liebe Taz-Redakteure,

     

    Wo bleibt die Pressefreiheit, wo die Objektivität, und vor allem wo die Wahrheit?

     

    Dieser Artikel liest sich so wie ein jeder andere aus der freien, bürgerlichen Presse.

    Man merkt, ihr habt eure Informationen von Presseagenturen der NATO.

     

    Ich nehme an, keiner von euch war in den letzten sieben Monaten in Lybien.

     

    Wo bleibt die andere Seite, die andere Stimme.

    Recherche muss sorgfältiger sein.

     

    Ich gebe euch hier 3 Quellen, die andere, und zwar ganz andere Informationen aus Lybien liefern:

     

    http://hinter-der-fichte.blogspot.com/

     

    http://theintelligence.de/index.php/politik/international-int/3076-nato-massaker-in-libyen.html

     

    http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-14470778

     

    Recherchiert genauer und kämpft für die Wahrheit.

    Dieser pathetischen Aufforderung solltet ihr aufgrund eures Berufes und damit eurer Pflicht in jedem Falle nachkommen.

     

    Noch ein Tipp:

     

    Der italienische Film über den Lybien-Konflikt:

    MALEDETTA PRIMAVERA von Fulvio Grimaldi

    (Bilder aus Lybien, die nicht im NATO-Filter stecken bleiben)

  • B
    Bettina

    "Wir sind dabei, die Stadt zu säubern; wir werden sicherlich welche in den Häusern finden"

     

    Nazi-Deutschland hat auch voller Inbrunst Städte "gesäubert", vor allen Dingen Warschau. Merkt denn überhaupt noch einer was, oder sind noch alle vom sogenannten arabischen Frühling berauscht?