berliner szenen: Kampf um Bahnhofs-gurken
Gut gelaunt verlasse ich im Morgengrauen den Ostbahnhof und suche mein Fahrrad. Der Abstellplatz für Räder ist unübersichtlich, und die Suche strapaziert meine gute Laune. Alle Räder scheinen mir gleich auszusehen. Vielleicht hätte ich das letzte Bier lieber nicht trinken sollen. Erst als von der Sahnestimmung nichts mehr übrig ist und die nackte Angst, womöglich bestohlen worden zu sein, an deren Stelle getreten ist, entdecke ich es an ganz anderer Stelle. Es steht zwischen drei abgerissen aussehenden Herren, die sich an der verwaisten Bushaltestelle über die Vorzüge meines Rads auszutauschen scheinen. Ich beobachte, wie sie die Bremsen ausprobieren und danach das Vorderrad anheben, um die Lichtanlage zu testen.
Nichts davon funktioniert, das weiß ich bestimmt. Mein Rad ist nur eine billige Bahnhofsgurke. Aber sie ist mir mit den Jahren ans Herz gewachsen, und ich bin keinesfalls bereit, sie kampflos aufzugeben. Entschlossen trete ich an die drei Herren heran und erkundige mich nach ihren Absichten.
Gefunden haben sie das Rad, sagen alle drei wie aus einem Mund. Dort drüben auf der Wiese habe es gelegen, der Besitzer müsse es wohl vergessen haben. „Wahrscheinlich ist er besoffen gewesen“, meint der Älteste, dessen grauer Bart einem Vogelnest ähnelt. Die beiden anderen nicken gewissenhaft, als seien sie vereidigte Sachverständige in dieser Frage. „Selbst wenn der Besitzer jetzt um die Ecke käme“, sagt der Älteste, „wie wolle er denn nachweisen, dass dieses elende Ding hier sein Rad ist. Das könnte er nicht, oder?“ Nüchtern wie Gerichtsvollzieher blicken mich die drei an.
Perplex verliere ich kein weiteres Wort und mache mich zu Fuß auf den Heimweg. Ohnehin bin ich mir nicht sicher, ob mein Rad nicht doch am Ostkreuz steht.
Henning Brüns
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