Kampf gegen Mobbing: "Warum machst du mich kaputt?"
Eine fahrende Theatergruppe spielt Schülern vor, was sie täglich erleben: Mobbing, Alkohol, Drogen, Gewalt. Im Anschluss wird diskutiert, zum Argwohn mancher Täter.
„Warum machst du mich kapuuutt?“ Ein verzweifelter Aufschrei hallt durch die Sporthalle der Berufsschule in Salzwedel. Was man an diesem Donnerstagmorgen hier miterleben kann, ist Mobbing im Endstadium. Auf der provisorischen Bühne agieren zwei Schauspielerinnen. Marie brüllt sich als gequältes Opfer Laura Hertz die Seele aus dem Leib. Lina, alias Franzi, mimt eine intrigante Göre mit großer Klappe, die diebische Freude daran hat, ihre psychisch instabile Mitschülerin zu zermürben.
Rund 200 Mal haben sich Lina Thomas (25) und Marie Theres Schwinn (23) mit dem Stück „Mobbing“ der Regisseurin Katrin Heinke im vergangenen Jahr in Szene gesetzt. Im Auftrag des mobilen Jugendtheaters „Weimarer Kulturexpress“ (Kasten) legten sie in einem VW-Transporter als „fahrendes Volk“ knapp 50.000 Kilometer zurück, um vor Jugendlichen Theater zu spielen; an diesem Vormittag vor 15- bis 21-Jährigen Berufsschülern in der kleinen Stadt Salzwedel in Sachsen-Anhalt.
„Wir haben noch keine Schule erlebt, für die Mobbing kein Thema war“, erzählt Marie. Vor der Aufführung muss noch einiges klargestellt werden: „Bitte esst und trinkt nicht während der Vorstellung“, ruft Lina in die Runde. Allmählich wird es leise im Saal und das Drama kann seinen Lauf nehmen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal neben der sitzen würde, die mir letztes Jahr meinen Platz als Jahrgangsbeste weggeschnappt hat“, beginnt Lina, alias Franzi, zu stänkern. Hinterhältig traktiert sie ihre schmächtige Mitschülerin im Blümchenkleid.
Sie lässt Lauras Termine platzen, stellt peinliche Fotos ins Netz, klaut ihre Hausarbeiten und tyrannisiert sie mit dem Handy: „Versteck dich, die Müllabfuhr kommt“, muss die im Stück 15-Jährige in einer SMS lesen, oder: „Haben deine Eltern dich noch nie gebeten, von zu Hause wegzulaufen?“ Zum Schluss ist Laura krank und depressiv, ein von Selbstzweifeln zerfressenes Nervenbündel. „Opfer“, beschimpft Franzi ihr Opfer verächtlich und schreit wütend: „Sie muss weg!“
Nach einem fulminanten Schlussdialog endet die Vorstellung abrupt. Es folgt eine Schrecksekunde. Dann entschließt sich das Publikum, doch noch zu klatschen.
Schüler, die nicht wissen, was sie tun
Jetzt sind die Schüler gefragt. Was würden sie an Lauras Stelle tun? Wie könnte das Stück enden? „Selbstmord!“, kommt ein praktischer Vorschlag aus den hinteren Reihen. „Die beiden könnten sich ordentlich kloppen“, meint ein anderer Schüler und lacht. Plötzlich bekommt ein Mädchen einen Kreischanfall, der mit „Halt doch endlich die Fresse!“ endet. Oder so ähnlich.
Die Jugendlichen hier sind nicht zimperlich. Viele finden den Auftritt ihrer Mitschülerin richtig cool und fangen an, laut Beifall zu johlen. Die Zwischenrufe häufen sich, die Atmosphäre heizt sich auf. Lina und Marie lassen sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Nach einem Jahr Tourneetheater sind sie Profis beim Zähmen widerspenstiger Zuschauer.
„’Hallo! Ihr Kasperköppe, ja genau ihr dahinten‘, ruft die zierliche Marie resolut, ’ihr habt schon die ganze Vorstellung über genervt, entweder Klappe halten oder raus!‘“ Einer der Kasperköppe heißt Werner und entschließt sich zur Kooperation. „Warum hast du dir das überhaupt alles gefallen lassen?“, will er von Marie wissen. Er nimmt dafür sogar eine frisch gedrehte Zigarette aus dem Mund.
Die Guten bleiben im Saal, die Bösen gehen
Es entsteht eine kurze Diskussion über Schuld und Sühne von Mobbingopfern und der allgemeine Konsens, dass man sich nichts gefallen lassen darf. Nach der Vorstellung passiert das, was Lina und Marie in den vergangenen Monaten immer wieder erlebt haben: Die „Guten“ – oft potenzielle Mobbingopfer – haben das Bedürfnis, weiter über das Thema zu sprechen, während die „Bösen“, die vielleicht schon einmal gemobbt haben, so schnell wie möglich mit ihren Sympathisanten den Saal verlassen.
„War schon ziemlich krass dargestellt, aber realitätsnah“, findet einer von den „Guten“, der 21-jährige Michael. „Ja, alles schon selbst erlebt“, pflichtet ihm eine Klassenkameradin bei, möchte das aber nicht weiter ausführen. Für Lina und Marie war es eine ganz normale Vorstellung. Schließlich sei der Lärmpegel erst nach 45 Minuten richtig angestiegen und das sei nicht ungewöhnlich.
Lehrerproblem Empathiemangel
Auf ihrem Trip durch deutsche Schulen haben die beiden Schauspielerinnen fürs Leben gelernt. Zum Beispiel, dass Gymnasiasten nicht immer nur schlau und Hauptschüler nicht immer die Dummen sind. „Wichtig ist, wie man Kindern begegnet“, glaubt Marie und beginnt, von einem Highlight ihrer Tournee zu schwärmen, einer Hauptschule in Ludwigshafen, wo sich die Schüler überhaupt nicht so verhalten hätten, wie man es von ihnen erwartete. „Sie waren während der Vorstellung mucksmäuschenstill, interessiert und lieferten hinterher tolle Ideen“, erinnert sich Lina.
Dieses „Wunder von Ludwigshafen“ habe Heiner bewirkt, davon sind die Schauspielerinnen überzeugt; der Typ von Lehrer, der ihnen „leider“ sonst nur selten begegnet sei. Heiner habe sich für den Werdegang jedes einzelnen seiner Schüler interessiert und die Kinder „wunderbar als Menschen angenommen“.
Solche Empathie erzeuge eine Lernatmosphäre, wie nicht oft anzutreffen war, erzählen die beiden Schauspielerinnen. Häufiger seien Schüler als „Problemfälle“ dargestellt worden. „Hier dürfen Sie nicht zu viel erwarten“, hätten ihnen Lehrer und Sozialarbeiter vielerorts erklärt, „unsere Schüler sind nicht besonders helle.“
Bei der Erinnerung an solche Erlebnisse verfinstert sich Linas Blick. „Das soll jetzt kein pauschales „Pädagogenbashing“ werden, stellt sie klar, aber nach diesem Jahr ist unser Lehrerbild nicht das beste.“ Viel Dienst nach Vorschrift hätten sie gesehen, viel Schulterzucken und Wegducken.
"Enttäuscht von diesem Schulsystem"
Auch in Salzwedel hat man den Eindruck, dass sich die Lehrer während der Vorstellung unsichtbar machen. Als der Lärmpegel steigt, guckt das pädagogische Personal zu, ohne einzuschreiten; ein Phänomen, das Lina und Marie immer wieder erlebten.
„Ich bin enttäuscht von diesem Schulsystem“, sagt Marie. Zu oft hätten sie diese aggressive Grundstimmung bei den Jugendlichen gespürt; eine – wie sie glauben – explosive Mischung, die aus Gleichgültigkeit, Missachtung und Vorverurteilung entsteht. „Manchmal hatte ich den Eindruck, wenn ich jetzt noch ein Wort sage, haut der mir eine in die Fresse“, erzählt Marie über Begegnungen an solchen Schulen.
Es ist zwei Uhr nachmittags, als die Schauspielerinnen Salzwedel hinter sich lassen. Am nächsten Tag sind sie in Woldegk gebucht, einer 3.000-Einwohner-Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. „Nach 500 Metern biegen sie rechts ab!“ Das Navi lotst Lina und Marie aus der Stadt. 180 Kilometer liegen vor ihnen. Mit einem Kleinlaster voller Requisiten kann sich das auf Brandenburger Landstraßen ziehen. Aus dem CD-Player ertönt „Sekt zum Frühstück“. Lina und Marie grölen gut gelaunt mit. Rund tausend Kilometer haben sie im vergangenen Jahr pro Woche zurückgelegt.
Das harte Leben der Wanderschauspieler
Die Schauspieler beim „Weimarer Kulturexpress“ sind als Selbstständige beschäftigt, Auto und Hotel werden bezahlt. Pro Vorstellung verdienen sie 95 Euro brutto für einen zehn- bis zwölf Stundentag – wenn man neben der Theatervorstellung alle Fahrten, Bühnenauf- und -abbau und Diskussion mit den Schülern einrechnet. Die Wochenenden zu Hause in Berlin sind kurz, denn der Sonntag ist unbezahlter Anfahrtstag.
Wenn Lina und Marie auf das vergangene Jahr zurückblicken, fällt ihnen vor allem eines ein: Es war anstrengend. Morgens meist schon um acht in der Schule, schwere Kisten schleppen, Bühnenaufbau, Vorstellung, Diskussion, Bühnenabbau, danach lange Autofahrten. „Ich bin Schauspieler geworden“, knurrt Marie, „ich bin weder Publikumsbespaßer, Kindererzieher, Lehrerberuhiger, noch Bühnentechniker, ich will einfach nur spielen.“
Die beiden Frauen, kriegen manchmal den Blues, wenn sie daran denken, dass sie die meiste Zeit mit Organisation, Technik und Fahren verbringen und die wenigste mit ihrem eigentlichen Beruf als Schauspieler. Als sie an diesem Donnerstagnachmittag nach Woldegk unterwegs sind, wissen sie schon: Ihr Auftritt am nächsten Tag wird einer ihrer letzten für den „Weimarer Kulturexpress“ sein.
Das Publikum wird erst am Ende ein wenig anstrengend. Die Jugendlichen sind hier aufgeschlossen, es gibt Auf- und Abbauhelfer und die Lehrer greifen unterstützend ein, wenn es zu bunt wird. Trotzdem: Für Lina und Marie steht fest: Es reicht.
In ihrem Jahr als „Wanderschauspielerinnen“ sind sie oft über ihre Grenzen gegangen, haben dabei aber auch viel gelernt. „Das hat mir Rückgrat gegeben“, resümiert Marie. „Ich weiß jetzt, komme, was da wolle, ich werde es schaffen.“ Lina ist froh, dass sie die härteste Schule, die man sich als Schauspieler vorstellen kann, überlebt hat: Vor jugendlichem Publikum zu spielen: „Schüler können gnadenlos sein, wenn sie einen nicht mögen, zeigen sie das knallhart. Das ehrliche Urteil ist die wichtigste Berufserfahrung, die man machen kann.“
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