Ein Heilmittel für den Zorn und die Trauer in den USA

Unmittelbarkeit, die sich gegen die Verzweiflung stemmt: Warum rüttelt eine MoMA-Ausstellung zu Käthe Kollwitz gerade New York auf?

Ein Realismus, der plötzlich unsentimental wirkt: Käthe Kollwitz, „Frau mit totem Kind“, 1903 Foto: Abb./Courtesy: Käthe Kollwitz Museum Köln

Von Sebastian Moll

An den New Yorker Universitäten sind seit ein paar Wochen Semesterferien. Der Campus der Columbia, wo im Mai landesweite propalästinensische Proteste ihren Ausgang nahmen und die Demonstranten heftig mit der Polizei aneinandergerieten, ist zu seinem idyllischen Normalzustand zurückgekehrt. Midtown samt Times Square, der Fifth Avenue und dem MoMA – Museum of Modern Art – gehört erneut ganz den Büroangestellten und den Touristen. New York hat sich wohl wieder seiner kommerziellen Kernidentität zugewandt.

Ganz ist die Politik allerdings nicht aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Mitte vergangener Woche gingen die New Yorker auf die Straße, um für die Einführung einer Mautgebühr für die vom Verkehrsinfarkt geplagten Straßen von Manhattan zu demonstrieren. Gleichzeitig kam es zu hässlichen antisemitischen Zwischenfällen. Das Haus von Anne Pasternak, der Direktorin des Brooklyn Museum, wurde mit Hamas-Symbolen beschmiert und in der U-Bahn forderten propalästinensische Aktivisten alle „Zionisten“ dazu auf, den Zug zu verlassen. Es war eine deutlich erkennbare Variante wohl bekannter „Juden raus“-Parolen.

Diese Vorfälle erinnerten daran, dass sich die zerrissenen USA gerade nur in der Sommerpause befinden. Die Spaltung, die sich in den vergangenen Monaten vor allem an der Frage entzündete, wie mit dem Krieg in Gaza umzugehen sei, aber eigentlich alle gesellschaftlichen Bereiche berührt, brodelt weiterhin dicht unter der Oberfläche.

Auch die bildende Kunst ringt dabei um eine angemessene Reaktion. Die Whitney-Biennale wurde gemeinhin als vage und zahm rezipiert. Die Werkschau von Jenny Holzer am Guggenheim war zwar gewohnt politisch, doch ihre 80er-Jahre-Konzeptkunst wirkt im Jahr 2024 wie eine Stimme aus der Vergangenheit, selbst wenn Holzer mit neuen Werken Donald Trump aufs Korn nimmt.

Viel zeitgemäßer scheint da paradoxerweise eine Ausstellung aus einer fernen Ära und einem anderen Land zu sein. Wie keine andere Schau trifft die Werkschau von Käthe Kollwitz in New York den Nerv der Zeit. So empfiehlt die New York Times als das beste Heilmittel für den Zorn und die Trauer, die derzeit viele Menschen von New York bedrücken, einen Besuch im vierten Stock des MoMA, wo seit April die Drucke von Kollwitz (1867–1945) gezeigt werden. Das Frieze Art Magazine sieht in ihren Selbstporträts ein Dokument der seelischen Kosten eines Widerstands gegen den Faschismus ihrer Zeit, liest daraus aber auch geradezu eine moralische Verpflichtung, trotz allem den Weg ebendieses Widerstandes zu wählen.

Die düstere Bildsprache von Kollwitz erfasst nicht nur den jetzigen Augenblick der USA. Die Unmittelbarkeit, mit der Kollwitz Hilflosigkeit und Schmerz angesichts des Weltgeschehens persönlich macht und mit der sie sich gegen die Verzweiflung stemmt, trifft überall einen Nerv. Aber vielleicht rüttelt sie New York deshalb besonders auf, weil die Konflikte hier einem gerade so nahe rücken, dass Kollwitz’Realismus plötzlich nicht mehr als sentimental erschient.

Die MoMA-Kuratoren betonen den großen Einfluss, den Käthe Kollwitz schon auf afroamerikanische Künstler aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie Elizabeth Catlett, Jacob Lawrence und Charles White hatte. Die hatten schon lange vor der jetzigen MoMA-Schau die aufreibende Kraft von Käthe Kollwitz entdeckt. Je mehr das weiße Mittelstandsamerika aus seinen Heile-Welt-Fantasien herausgerissen wird, desto besser versteht es nun auch die Schwere einer Käthe Kollwitz. Eine Schwere, die Amerika lange Zeit fremd war.

„Käthe Kollwitz“: Museum of Modern Art, New York, bis 20 Juli 2024