Kämpfe mit Assad-Anhängern: Blutige Unruhen um Latakia
In Syriens alawitisch geprägter Küste wurden Zivilist*innen bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften, Milizionären und Assad-Anhängern getötet.
„Seit drei Tagen sitze ich nur zu Hause – ohne Strom, ohne Wasser“, berichtet Ali Fedda der taz. Er ist 20 Jahre alt, lebt in der syrischen Küstenstadt Latakia – und ist Alawit. „Vor die Tür zu gehen, ist momentan zu gefährlich. Es wird auf der Straße geschossen, wir hören die Schüsse. Und die Explosionen, vielleicht von Panzerabwehrraketen – das ganze Haus wackelt.“ Seit Donnerstagabend wird in der Küstenstadt, im benachbarten Tartus und in einigen Dörfern der insgesamt alawitisch geprägten Region gekämpft. Was bisher geschah, lässt sich nach Gesprächen der taz mit Augenzeugen und Experten sowie Onlinequellen so rekonstruieren: Am Donnerstag griffen wohl Ex-Militärs des alten Regimes und alawitische aufständische Sicherheitskräfte der neuen Regierung an. Mehr als zwei Dutzend Soldaten wurden so bei Überfällen und durch Hinterhalte in Dörfern und entlang großer Straßen getötet.
Nach Angaben des Institute for the Study of War (ISW) bekannte sich die Syrian Popular Resistance, eine weiter zum gestürzten Machthaber Baschar al-Assad loyale Gruppe, zu einigen Angriffen auf die neuen Staatssicherheitskräfte, in einigen Ortschaften sowie entlang der Autobahn M4 nördlich von Latakia. Laut ISW soll es aber keine zentrale Kommandostruktur unter den Aufständischen geben. Nach den Angriffen verhängte das Militär eine Ausgangssperre – und schickte schwere Artillerie und Truppen in die Region.
Bis zum Sonntag sollen schließlich mindestens 745 Zivilist*innen getötet worden sein, die meisten von ihnen Alawit*innen, berichtet die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Unter den Toten sollen auch viele Frauen und Kinder sein. Mindestens 148 Kämpfer des alten Regimes und 125 Soldaten der neuen Regierung sollen außerdem umgekommen sein.
Konfliktforscher Armenak Tokmajyan, der unter anderem für das Carnegie Middle East Center arbeitet, sagt der taz: Ehemalige Offiziere des Regimes Assads hätten sehr wahrscheinlich eine Rolle als Anführer gespielt, in dieser ersten koordinierten und bewaffneten Aktion gegen die neue Regierung. Er würde jedoch nicht alle von ihnen als „Pro-Assad“ beschreiben, erklärt Tokmajyan. Einige hegten ebenso einen Groll gegenüber dem einstigen Autokraten. Als mögliche Gründe für die Angriffe sieht er eher die Menschenrechtsverletzungen gegen Alawit*innen in den vergangenen Wochen und den Mangel an einem echten, nationalen Dialog.
Es gibt eine Vorgeschichte zu den Angriffen
Wie von Tokmajyan angesprochen, gibt es zu den Angriffen eine Vorgeschichte: Schon seit Mitte Januar ist die Lage an der Küste und in den alawitischen Dörfern angespannt. Der Anfang Dezember gestürzte Diktator Assad gehörte der religiösen Minderheit der Alawit*innen an. Die Bevölkerungsgruppe wurde im alten Regime übervorteilt – im Militär, den Geheimdiensten und in der Verwaltung. Das Assad-Regime beging viele Verbrechen an seinen Bürgerinnen und Bürgern, vor allem während des Krieges ab 2011. Besonders brutal waren etwa die Befehlshaber der berüchtigten vierten Division der Armee – und laut ISW könnte das von einem Ex-Mitglied gegründete Military Council for the Liberation of Syria an den Angriffen auf die Regierungssoldaten beteiligt gewesen sein. Mit dem Fall des Regimes haben die ehemaligen Herrscher Macht und Lebensunterhalt verloren. Und viele vertrauen den neuen sunnitischen Machthabern, die eine dschihadistische Vergangenheit haben, nicht.
Schon vor den Ereignissen seit Donnerstag herrschte an der Küste daher eine angespannte Stimmung: Alawit*innen fürchteten um ihre Sicherheit, teils durch Falschmeldungen befeuert. Sunnit*innen machten teils die gesamte alawitische Gemeinschaft pauschal für die Verbrechen Assads verantwortlich. Und Berichte über Selbstjustiz und außergerichtliche Exekutionen von Alawit*innen machten immer wieder die Runde.
Bilder und Videos, die nun von der Küste Syriens in die sozialen Medien hochgeladen werden, zeigen Massaker: verkohlte Leichen von Streitkräften. Körper in ziviler Kleidung, die in Blutlachen liegen, daneben weinende Frauen. Hinrichtungen von Menschen in Zivilkleidung unter Obstbäumen. Gefangene, die teils verletzt und ausgepeitscht werden oder auf allen vieren kriechen müssen.
Die Angst greift um sich: Ein Mann aus der Region Tartus, den die taz Ende Dezember interviewte, schreibt: „Erinnerst du dich, als ich dir sagte: ‚Die Islamisten werden kommen und Alawit*innen töten‘? Ich log damals nicht.“ „Wir können jetzt keine Fragen beantworten, wir fliehen gerade in die Berge“, schreibt am Samstag ein weiterer Kontakt: „Die Lage ist schlimm. Wenn du Alawit bist, töten sie dich sofort.“ Ein anderer Kontakt schreibt: Seine Familie sei bislang unversehrt. Aber zusammenfassend könne er sagen, dass er das Vertrauen in die neuen Regierungskräfte verloren habe.
Die Lage bleibt derweil unübersichtlich: Wer war bei den Angriffen auf die Alawit*innen, vor allem auf die Zivilist*innen, involviert? Waren es Soldaten der neuen Regierung? Die gehörten zuvor zumeist Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), der ehemaligen Miliz des Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa, als Kämpfer an. Menschen, die noch eine Rechnung offen haben und das Chaos nutzten? Kämpfer, die auf eigene Rechnung handelten?
Die Lage bleibt unübersichtlich
Davon spricht etwa Analyst Cédric Labrousse auf X: In einem gemischt sunnitischen und alawitischen Dorf an der Küste sei am Wochenende das alawitische Viertel angegriffen worden, 50 Menschen sollen getötet werden sein. Beschuldigt seien unter anderem Dschihadisten aus Zentralasien, die sich der neuen Regierung nicht unterordnen wollten. Unabhängig bestätigen lässt sich das nicht.
Das ISW schreibt außerdem: Videos in syrischen Medien zeigten die Präsenz eines Konvois der türkisch unterstützten Syrian National Army (SNA) an der Küste. Davon schreibt auch Analyst Orwa Ajjoub auf X: Verschiedene Quellen in Syrien hätten ihm bestätigt, dass vor allem zwei mit der Türkei verbundene Brigaden für das Töten von Zivlist*innen verantwortlich seien.
Übergangspräsident al-Scharaa und seine Regierung machen Milizen, die an die Küste gekommen seien, um den Regierungsstreitkräften zu helfen, für Exekutionen und Razzien in Wohnhäusern verantwortlich. Außerdem beschuldigte sie Pro-Assad-Kämpfer. Al-Scharaa rief zu Frieden und nationaler Einheit auf. Am Sonntag erklärte die Regierung, dass man eine unabhängige Kommission etabliere, die die Kämpfe an der Küste untersuchen solle. Auch warum ausgerechnet jetzt die Angriffe gegen die Sicherheitskräfte zunahmen, ist unklar. Sicherheitsexperte Ronnie Hamada erklärt dazu: „In den letzten Wochen hat es verschiedene Fälle von äußeren Einflüssen auf Syrien gegeben.“ Nachdem es zwischen den Drus*innen in Südsyrien und der neuen Regierung jüngst Zusammenstöße gab, hatte Israel ihnen Unterstützung zugesichert. Das Land hält bereits mehrere Dörfer an der südöstlichen Grenze besetzt.
Am meisten verloren durch Assads Sturz haben die Islamische Republik Iran und Russland. Bereits im Dezember hatte Irans Ajatollah Ali Chamenei gesagt: Die Jugend in Syrien müsse „klare Kante zeigen gegenüber denen, die diese Unsicherheit über ihr Land gebracht haben“. Doch Berichte zu einer Beteiligung des Iran an den derzeitigen Kämpfen seien derzeit nur Spekulation, präzisiert Hamada. „Syrien befindet sich gerade in einem instabilen Gleichgewicht. Jede kleine Schwankung kann die Zukunft bedeutsam beeinflussen.“ Ein größerer, interethnischer Konflikt könne daher nicht ausgeschlossen werden. Und davon, wie die neue syrische Regierung nun reagiert, werde vieles abhängen. „Die Regierung muss eine starke, professionelle Position einnehmen, um Zivilist*innen zu schützen“ so Hamada.
Ahmad Fallaha, ein Fotojournalist aus Idlib, der am Samstag die Küstenregion besuchte, berichtet der taz: Er habe die Kämpfe zwischen Aufständischen und syrischen Streitkräften gesehen. Auch habe er Zivilist*innen gesehen, die von den Streitkräften attackiert wurden, sowie brennende Häuser entlang der Straße von Latakia nach Jableh. Und schickt Bilder von gepanzerten Fahrzeugen, Regierungskämpfern mit Panzerfäusten und Rauchwolken.
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