Kämpfe in Nordsyrien: Kurden gegen Islamisten
Eine PKK-nahe Miliz wehrt sich gegen vorrückende Dschihadisten. Diese versuchen, ihre Version des Scharia-Rechts durchzusetzen.
BERLIN taz | Patriotische Kurden bezeichnen ihre Siedlungsgebiete in Syrien als Rojava Kurdistan, Westkurdistan. Bisher sahen sie sich als die Gewinner des Bürgerkriegs. Mit ihrem eingeschlagenen „Dritten Weg“ jenseits der Freien Syrischen Armee (FSA) und des Regimes von Baschar al-Assad konnte die stärkste kurdische Partei, die PKK-nahe PYD, vor einem Jahr eine Art Autonomie im Nordosten Syriens errichten. Doch am 16. Juli holte der Krieg die Kurden ein.
In dem Ort Ras al-Ain an der Grenze zur Türkei brachen heftige Kämpfe zwischen den Heiligen Kriegern der Nusra-Front und dem irakisch-syrischen Ableger von al-Qaida (Islamischer Staat im Irak und Syrien, Isis) sowie der kurdischen Miliz YPG aus. Schon zuvor stiegen die Spannungen immer weiter an, da die Islamisten immer tiefer in kurdische Gebiete vordrangen und ihre Version der Scharia durchzusetzen versuchten.
„Es war unausweichlich, dass diese Kämpfe ausbrechen würden“, meint Wladimir van Wilgenburg, Analyst des US-Thinktanks Jamestown Foundation. „Zu sehr unterscheiden sich die politischen Ideologien der Gruppen, die über das gleiche Gebiet die Kontrolle erringen wollen.“
Anlass der Gefechte war die Entführung einer kurdischen Kämpferin
Auslöser für die Kämpfe war der Angriff von Nusra-Kämpfern auf eine weibliche YPG-Patrouille in Ras al-Ain. Eine der Kämpferinnen wurde entführt – damit war die „rote Linie“ für die YPG überschritten. Die kurdische Miliz eröffnete eine groß angelegte Offensive und vertrieb nach heftigen Kämpfen alle Islamisten, aber auch die verbleibenden FSA-Gruppen, aus Ras al-Ain.
Im Zuge der Gefechte wurden im türkischen Nachbarort Ceylanpinar zwei Zivilisten getötet; die türkische Armee eröffnete daraufhin das Feuer auf kurdische Stellungen. Für die Türkei kommt die Situation gänzlich ungelegen – nach den massiven Protesten in Istanbul und dem stockenden Friedensprozess mit der PKK ist eine Eskalation an der syrisch-kurdischen Grenze ein Horrorszenario. Falls die Kurden nach dem Nordirak ein weiteres Autonomiegebiet errichten, wird es kaum möglich sein, die eigene kurdische Bevölkerung unter Kontrolle zu halten.
Gefangenenaustausch zwischen Al-Qaida und Kurden
Die Kämpfe zwischen den Islamisten und den Kurden halten seit einer Woche an und breiten sich rasch aus. Im westlich von Ras al-Ain gelegenen Tall Abyad brachen Gefechte zwischen der Nusra-Front und Isis auf der einen und dem kurdischen FSA-Bataillon Dschabhat al-Akrad auf der anderen Seite aus. Im Laufe der Gefechte wurde der regionale Emir von al-Qaida, Abu Musab, von kurdischen Einheiten verhaftet.
In einem Rachefeldzug nahm al-Nusra über 300 kurdische Zivilisten als Geisel und drohte, diese hinzurichten, sollte der Emir nicht freigelassen werden. Nach Verhandlungen wurden am Sonntag die kurdischen Zivilisten gegen den Emir ausgetauscht – doch nach wenigen Stunden Ruhe brachen die Kämpfe erneut aus.
Im Osten Syriens um die kurdische Stadt Girke Lege herum hat al-Nusra ihre Taktik mittlerweile geändert und greift auf Selbstmordattentäter und Hinterhalte zurück. In der ländlichen Region sind seitdem an einem halben Dutzend Orten Gefechte ausgebrochen, bei denen keine der beiden Seiten zurzeit die Oberhand gewinnen kann.
Angst vor Säuberungen gegen "Ungläubige"
Die ethnischen Spannungen nehmen durch diese Entwickelung weiter zu. Viele Kurden, aber auch Christen befürchten, dass al-Nusra und Isis im Norden auf ethnische Säuberungen gegen die „Ungläubigen“ setzen wird. Die Bewohner ganzer Dörfer fliehen nun in die Türkei. Orte wie Tall Abyat gleichen mittlerweile Geisterstädten.
Der Aufruf von FSA-Generälen, die Kämpfe, die nur Assad helfen würden, einzustellen, verhallen ungehört – besonders, weil die FSA selber mit al-Nusra und Isis auf Kriegsfuß steht und keinerlei Kontrolle über die Dschihadisten ausüben kann. „Alles kann jetzt passieren,“ erläutert van Wilgenburg: „Es scheint, dass die YPG ihre Dominanz in der Region festigt und versuchen wird, diese auch auf Tall Abyad auszudehnen.
Al-Nusra und Isis konzentrieren sich derweil mehr auf die Ölgebiete im irakischen Grenzgebiet, wollen aber die Kontrolle über die Grenzstadt Tall Abyad nicht verlieren.“ Ein Ende der Gefechte ist daher vorerst nicht abzusehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch