: Kälte, Kunst und Kotze
■ Der Schauspieler Bruno Ganz las aus „Frost“ von Thomas Bernhard
„Die Künstler sind die großen Erbrechen-Erreger unserer Zeit.“ Der Satz stammt aus 'Frost‘ von Thomas Bernhard und kroch am Freitag aus der artistischen Rachenöffnung des Bruno Ganz.
Für einen Tag war der große Künstler, dessen Bremer Tage unter Zadek lange zurückliegen, zurück, um eine wahrhafte „Erbrechens„-Orgie zu veranstalten. Schon kurz nachdem er die frühen Überreste des frischverstorbenen österreichischen Dichters aufs Podium gelegt hatte, waren die heiligen Hansestadthallen in Blut und Eiter getaucht. Niemand wurde verschont, als Ganz, erstmal in Fahrt geraten, Phantasie mit Ausdruckskraft gepaart über den Gehör- und Gehirngängen seiner hundertfachen Hörerschaft ausgoß.
Eine „willkürliche, nicht repräsentative Auswahl“ aus Frost, Bernhard's erstem Prosawerk, das die Observation des vermeintlich verrückten Kunstmalers Strauch durch einen ich-ezählenden Medizinstudenten zum Gegenstand hat, hatte er angekündigt. Schon begann er mit einer Traumschilderung, bei der ein ro
tierender Operationstisch, auf dem der Student Strauch operieren soll, eine nicht unwesentliche Rolle spielt.
Weiter gings mit dem Besuch in einem Armenhaus, Reflexionen über „Hundegekläff“ als „der Weltuntergang persönlich“, hin zum Fabulieren über Zeitungen, Politik und - vor allem und zuletzt - über die Kunst. Selbst diejenigen, die in Preiskategorie 3 (und damit unendlich weit weg vom Podium) sitzen mußten, kamen in den Genuß, Sprache sich in Bilder verwandeln zu sehen. Dichter und Darsteller waren die gefundene Symbiose: Zum einen die endlosen Wortkaskaden des Nihilisten Bernhard, zum anderen die eindringlich-markante Interpratation des Bruno Ganz.
Der hat es einfach raus. Wenn er „Hirn“ gedruckt sieht, sagt er H-I-R-R-N, und schon klebt es für alle sichtbar irgendwo schwabbelnd am Boden. Gleichzeitig stinkt's auch noch, denn spätestens, wenn er zum dritten Mal „Verwesung“ wie einen Wurm aus dem Mund hat kriechen lassen, riecht's in der Rat
haushalle säuerlich-süß.
Aber Ganz blieb auch dabei dem hochkultivierten Rahmen gerecht und schwenkte im rechten Moment über zu Reflexionen über die Kunst im allgemeinen und das Theater im besonderen. Nadelgestreift steigerte er sich dabei immer mehr in die bitter-bösen Bemerkungen, daß ihm bald das schon schüttere Haar zu Berge stand.
„Wenn Sie wirklich
noch wollen“
Das Publikum sperrte Augen, Ohren und Münder auf, war so entrückt, daß es selbst lauthals lachte, als es gesagt bekam, das Auditorium sei unbeschreiblich dumm. Mit Applaus wurde dies quittiert, so daß Bruno Ganz mit den Worten: „Wenn Sie wirklich noch wollen“ eine Zugabe aus Bernhards „Erzählungen“ nachschob.
Es ging dabei um die Frage „Tragödie oder Komödie?“ Ein nur noch bitteres und nicht mehr komisches Ende, mit dem sich der Schauspieler einen nachdenklichen Abgang verschaffte.
Elke Weber
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