KOmmentar: Der Zug fährt ab
■ Senatsvision der Verkehrsmetropole ist fast am Ende
In diesen Tagen zerrinnen gleich mehrere Visionen. Nicht nur CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky schwärmte noch kürzlich in einem Zeitungsinterview, daß der Senat die Stadt zum Zentrum der Verkehrstechnik machen werde. Nun überlegt Siemens, eines der weltweit wichtigsten Unternehmen auf diesem Gebiet, seine Fertigungsstätte in Berlin, zu schließen. Eine weitere Wunschblase platzte schon vor zwei Wochen, als sich die Norddeutsche Landesbank entschied, doch nicht mit der wirtschaftlich angeschlagenen Bankgesellschaft Berlin zusammenzugehen. Das propagandistische Hoffen der politischen Elite und die triste Realität könnten kaum weiter auseinanderliegen.
Zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Großmannssucht schwanken auch andere Großstädte. Das zeigt ein Blick in die Halb-Millionen-Stadt Hannover, die die globale Bevölkerung zur Weltausstellung Expo 2000 auf einen Acker am Messegelände einlädt.
Doch in Berlin hat die Realitätsferne einen außergewöhnlichen Grad erreicht. Seit 1990 machen sich hochbezahlte Gutachter, Politiker und Manager regelmäßig Gedanken über Visionen und Leitbilder für die Zukunft der Stadt. Da schwirrt es nur so von Begriffen wie Medienwirtschaft, Bahntechnik, dem neuen Bürgertum, lukrativen Beziehungen nach Osteuropa und den entsprechenden Wachstumszahlen, die bald schon einträten.
Ebenso regelmäßig freilich verweisen Wirtschaftsforscher die Pläne ins Reich der Träume. Nicht nur, daß die professionellen Zweifel in den Köpfen der Senatsspitzen nicht anzukommen scheinen – zudem passiert auch in der Praxis nicht viel, um den Ideen wenigstens eine Spur Realitätsgehalt einzuhauchen. Es hat eben keinen Sinn, von moderner Verkehrstechnik zu faseln und andererseits S-Bahn-Züge aus dem Olympiajahr 1936 durch die Metropole quietschen zu lassen. Neun Jahre nach dem Fall der Mauer hat die Verkehrsverwaltung sich gerade herabgelassen, zehn Millionen Mark für ein Verkehrsinformationssystem herauszurücken. Das hatte Siemens lange gefordert. Nun könnte es zu spät sein.
Aus den Sphären der selbstvergessenen Spinnerei ist die Große Senatskoalition noch nicht auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Solange das nicht passiert ist, wird auch die wirtschaftliche Talfahrt anhalten. Darüber können auch leicht sinkende Arbeitslosenzahlen nicht hinwegtäuschen. Hannes Koch
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