KOMMENTARE: Opfer an den rechten Zeitgeist
■ Wird die SPD, angeknabberten Dominosteinen gleich, beim Artikel 16 GG umfallen?
Warum gibt es kein Gesetz, das Politiker in der Asyldebatte zu einem intellektuellen Mindestniveau zwingt? Eine Art Zirndorfer Punktekartei, ab fünf Punkten würde der Dienstwagen entzogen, ab zwölf Fax und Telefon abgeschaltet, ab achtzehn würden aufenthaltsbeendende Maßnahmen angedroht. Gäbe es die Skala wirklich, Volker Rühe hätte die Schallgrenze spätestens dann überschritten, als er in einem denkwürdigen Strategiepapier am 12. September 1991 sämtliche Parteiorgane aufforderte, das Grundrecht auf Asyl zum Wahlkampfthema zu machen. Jetzt, nach den Landtagswahlen, sammelt auch die SPD-Spitze Punkte, so als hätte ihr das Wahlergebnis den letzten Rest von politischem und zivilem Orientierungssinn geraubt. Ob Stolpe, Farthmann oder Voscherau — alle wollen sie nun die Änderung, und damit die faktische Abschaffung von Artikel 16 Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes, nicht mehr ausschließen. Wie eine Reihe angeknabberter Dominosteine fallen seit dem Wahlsonntag SPD-Politiker um — und in die Arme der CDU/ CSU, die die Sozis wieder einmal nach allen Regeln der Kunst in die „vaterländische Pflicht“ nimmt.
Nun kann man den Herren Stolpe, Farthmann oder Voscherau nicht einmal Dummheit vorwerfen. Den meisten ist klar, daß eine Änderung und faktische Abschaffung von Artikel 16 die Zahl der Flüchtlinge nicht senkt. Wer in Osijek, Sarajevo oder im kurdisch-türkischen Cizre auf gepackten Koffern sitzt, greift nicht während der Feuerpause zum Telefon, um sich bei der deutschen Botschaft zu erkundigen, ob Artikel 16 noch in Kraft ist. Die Menschen kommen einfach, weil ihnen gar keine andere Wahl bleibt. Gerade weil die Herren Stolpe, Farthmann und Voscherau dies wissen, sind ihre jüngsten Äußerungen so fatal. Denn sie suggerieren, der Wahlerfolg der Rechtsradikalen wäre geringer oder vielleicht ganz ausgefallen, hätte man Artikel 16 dem rechtspopulistischen Zeitgeist geopfert. Wer so mit einem Grundrecht umspringt, müßte seinen Eid auf das Grundgesetz widerrufen.
Dabei hat die SPD durchaus Leute, die „punktefrei“ sind. Den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder zum Beispiel, der sich hin und wieder die Freiheit nimmt, seinen Genossen ideologiefreien Nachhilfeunterricht in Sachen Asyl zu erteilen: mehr Sachbearbeiter beim Bundesamt in Zirndorf, humane Unterbringung von Asylsuchenden, die Bilder von „Flüchtlingswellen“ gar nicht erst aufkommen lassen — und: Finger weg von Artikel 16 des Grundgesetzes. Der ist zum Schutz politisch Verfolgter da, nicht zum Schutz der Bundesrepublik vor Flüchtlingen. Andrea Böhm
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