KOMMENTARE: Opfer der Geschichte
■ Die Rassisten in Rostock und anderswo denken, sie machen Geschichte. Es wäre gefährlich, ihnen zu glauben.
Deutschland hat soeben wieder Europa erobert. Der Bonner Express brüllt in seiner Überschrift: „Die Bundesbank verläßt das Schlachtfeld siegreich — Chaos stärkt die D-Mark.“ Und Bild zählt schon den Profit aus dem europäischen Einheitsmarkt: „Wir Deutschen können wählen, was wir aus dem europäischen Supermarkt wollen.“ Italienische Schuhe und ein Angelurlaub in Schottland werden billiger.
Doch was passiert im vereinigten Land der allmächtigen Deutschmark? In Großbritannien lesen wir Berichte über Neonazis, die ImmigrantInnen angreifen. Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagen: „So sind die Deutschen nun mal. Es passiert jetzt schon wieder.“
Wir wissen natürlich, was „es“ bedeutet. Wir sehen gerne Filme über deutsche Skinheads, besonders wenn sie ein Hakenkreuz auf der Stirn tragen.
Wir Briten halten jeden Deutschen für einen heimlichen Skinhead. Unsere Währung mag schwach sein, aber unser moralischer Standard ist mächtig hoch. Um das zu beweisen, sind wir sogar bereit, um den ganzen Globus zu reisen — bis zu den Falklands und an den Golf.
Wir haben jetzt sogar 2.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Jemand erzählte mir, daß Deutschland 220.000 jugoslawische Flüchtlinge aufgenommen habe, aber das kann ja gar nicht sein. Schließlich haben die Deutschen nicht das große britische Herz.
Die Bilder, die jetzt aus Deutschland in unsere Wohnzimmer kommen, bestätigen den meisten BritInnen, daß der Nazismus in Kohls Reich unter der Oberfläche schlummert. Wir tendieren dazu, den Rassisten in Rostock, Quedlinburg und Halle zu glauben, wenn sie behaupten, sie seien der Zeitgeist, sie seien Teil einer mörderischen historischen Bewegung, die zurückgekehrt ist.
Viele BritInnen sind davon überzeugt, daß Deutschland den Weg der Weimarer Republik gehen wird. Daß dieses Bild sich gefestigt hat, liegt zum Teil auch an den deutschen Reaktionen auf die Neonazis.
Es ist natürlich aufregender und macht mehr her, gegen die Neonazis zu kämpfen, als über das Problem zu diskutieren, wie die Waren im europäischen Supermarkt verteilt werden — und etwas zu unternehmen, damit den Ostdeutschen auch der Griff ins Füllhorn gewährt wird. Eure verdammten rassistischen Macho-Strolche sind auch nicht anders als unsere verdammten rassistischen Macho-Strolche. Sie sind — ebenso wie die von ihnen Angegriffenen — Opfer der Geschichte. Laßt sie bloß nicht in dem Glauben, daß sie Geschichte machen.
Desmond Christy
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