Juristin über Hafenexplosion von Beirut: „Keine Gerechtigkeit im Libanon“
Zwei Jahre nach der Hafenexplosion in Beirut gibt es noch immer keine Ermittlungsergebnisse. Die Anwältin Zena Wakim klagt nun in den USA.
taz: Frau Wakim, zwei Jahre sind seit der Explosion in Beirut vergangen. Viele Libanes*innen fordern Gerechtigkeit. Was bedeutet das im juristischen Sinne?
Zena Wakim: Sie wird darin bestehen, dass ein Gerichtsbeschluss die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Es ist sehr schwierig, ohne Antworten auf die eigenen Fragen zu trauern. Gerechtigkeit dient dem Land, aber sie ermöglicht den auch die Trauerbewältigung der Einzelnen.
ist Vorsitzende der Schweizer Stiftung Accountability Now. Sie arbeitet derzeit mit internationalen Anwält*innen und weiteren Partnern daran, die Verantwortlichen für die Explosion in Beirut zur Rechenschaft zu ziehen
Wie weit ist der Stand der Aufklärung?
Es gibt keine Ermittlungen, im Libanon tut sich nichts. Die politische Elite, die vom Richter vorgeladen oder angeklagt wurde, hat es geschafft, die Ermittlungen auszusetzen und die Arbeit der Justiz zu sabotieren. Sie haben über 25 Anträge auf Entlassung der Richter gestellt. Sie haben Anträge auf die Entlassung der Berufungsrichter gestellt und Klagen gegen den Staat wegen Fehlverhaltens der Richter eingereicht. Die Verfahren sind ausgesetzt, in diesem Jahr hat bisher keine Untersuchung stattgefunden.
Wie könnte im Libanon Gerechtigkeit auf juristischer Ebene erzielt werden? Kann sie überhaupt erreicht werden?
Ich denke, jeder hat sich jetzt damit abgefunden, dass es im Libanon keine Gerechtigkeit geben wird. Alle Opfer haben eklatante politische Einmischung, systembedingte Verfahrensmängel und den Maulkorb der Justiz erlebt. Das ist der Grund, warum die Opfer begonnen haben, über Alternativen nachzudenken.
Die Familien der Opfer der Explosion haben eine Klage im US-amerikanischen Texas eingereicht, unterstützt von Ihrer Stiftung Accountability Now. Die 250-Millionen-Dollar-Klage richtet sich gegen ein US-Unternehmen. Was haben die damit zu tun?
Die Verbindung zu Texas ergibt sich aus der Tatsache, dass der Angeklagte – TGS, eine Firma für geophysikalische Dienstleistungen –, seinen Sitz in Texas hat. Ihr gehört das britische Unternehmen Spectrum Geo, das den Frachter „Rhosus“ gechartert hatte, mit dem das Ammoniumnitrat in den Libanon kam. Dadurch ist die Gerichtsbarkeit in Texas gegeben. TGS hatte einen dubiosen Vertrag mit dem Energieministerium des Libanon abgeschlossen. Wir haben ihn eingesehen, er hält sich nicht an die in der Branche geltenden internationalen Standards. Wir wissen nicht, wie viel im Rahmen dieses Vertrags gezahlt wurde. Spectrum hatte die „Rhosus“ gechartert, um seismische Maschinen aus dem Libanon zurück nach Jordanien zu holen und zu transportieren. Spectrum hatte ein Schiff gechartert, mit einer wechselhaften Wartungsgeschichte, einem sehr zwielichtigen Eigentümer, das bereits das Dreifache seiner Kapazität geladen hatte. Es hatte weder die Rampen an Bord, um die Maschinen zu entladen, noch hatte es die Kapazität, diese Maschinen zu transportieren. Und vor allem: Es hatte Sprengstoff an Bord.
Wie lautet die Anklage?
Anspruch auf verschuldensunabhängige Haftung, für den Verlust von Menschenleben, sowie für Umwelt- und Sachschäden.
Aber was ist mit den libanesischen Politikern? Human Rights Watch zufolge wussten Sicherheitsbehörden, Zollbeamt*innen, ehemalige Minister, der ehemalige Regierungschef und der amtierende Präsident von der gefährlichen Fracht. Gibt es Chancen, dass sie vor Gericht kommen?
Die Klage richtet sich nicht direkt gegen die libanesischen Politiker, aber viele von ihnen sind eindeutig in die Ereigniskette, die zur Explosion führte, verwickelt. Das wollen wir durch den Prozess in den USA aufdecken. Einige von ihnen haben den Vertrag mit TGS unterschrieben, manche davon profitiert. Einige halfen beim Chartern der „Rhosus“. Wir erwarten, das Korruptionsnetzwerk hinter der Explosion aufzudecken. Teil des Prozesses in den USA wird sein, sie anhören und befragen zu lassen. Die USA haben etwas, was kein anderes Land hat, nämlich den Entdeckungsprozess. Das ist ein sehr mächtiges Instrument, um Beweise zu suchen und die andere Partei zur Offenlegung von Informationen zu zwingen – wie die Kommunikation mit Beamten oder Zahlungen.
Sind Sie zuversichtlich, dass es Gerechtigkeit geben wird?
Die derzeitige Untersuchung zielt auf über 100 Personen ab: vom Transporteur des Ammoniumnitrats bis zu den Richtern, Sicherheitskräften, Politikern sowie den Verkehrs-, Finanz- und Energieministern. Weil es so viele sind, stehen die Chancen gut, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“