Liebe Frau Seeliger,
leider durfte ich mit Erschrecken soeben Ihren Beitrag bewundern. Jemand der so gekonnt wie Sie Stereotypen reitet und sich aus Gefallenssucht populistische Vorurteile zu eigen macht, um daraus einen ebenso niveaulosen wie unsubstantiierten Besinnungsaufsatz zu produzieren, macht nichts anderes als scheinbar Herr von Guttenberg: Sich mit fremden Lorbeeren schmücken, in der Hoffnung dafür Anerkennung zu ernten.
Der Unterschied alleine ist, dass die Dissertation zumindest die klugen Gedanken anderer reproduziert, während Ihr Beitrag nur die verqueren Ideen wiedergibt, von denen Sie wohl denken, sie träfen in der gegenwärtigen Situation den Massengeschmack!
Da schreiben Sie von den klaren Geschlechterrollen und den Frauen, die alle lange Haare haben. Herzlichen Glückwunsch zu diesem journalistischen Meisterwerk. Was haben Sie gegen Frauen mit langen Haaren? Was haben Sie gegen Frauen, die Bier trinken? Kann es sein, dass es Ihnen ein wenig an derart grundlegenden Primärtugenden wie Toleranz mangelt? Dulden Sie nur, was auffällt? Was anders ist, allein um den Willen des anders Seins? Diesen Eindruck vermittelt Ihr Artikel leider auch.
Das ist schade! Denn so ist Ihr Beitrag nicht nur belanglose Effekthascherei, sondern viel mehr: Ein aktiver Aufruf zur Intoleranz. Sie suggerieren Ihren Lesern ein eindeutiges Bild: Sei einzigartig! Warum? Egal warum und egal auf wessen Kosten! Hauptsache sei anders! Trag deine Haare kurz! Egal, ob dir lange Haare besser gefallen und du dich mit kurzen Haaren nicht wohl fühlst!
Ist denn das, was eine Mehrheit für besser hält (und sei es nur die Haarlänge) immer zu verteufeln, nur weil es "mainstream" ist. Ist Ihnen denn schon einmal der Gedanke gekommen, dass wir alle zusammen in einer Demokratie leben und unsere Gesellschaft davon zusammengehalten wird, dass wir mehrheitsfähigen Konsense finden! Tragen Sie Ihre Haare kurz, wenn Sie es mögen. Doch bespucken Sie nicht die Mehrheit Ihrer Mitmenschen, die sie gerne länger trägt, nur weil sie in der Mehrheit ist.
Die vernünftige Mehrheit - die mit den langen Haaren - ist es, die es gewährleistet, dass auch Journalisten wie Sie ihre Individualität entfalten können: Kurze Haare oder Glatze, egal! Oder zweifeln Sie an dem demokratischen Grundsystem unsrer Republik? Meinen Sie etwa, wir sollten es nicht mehr dem mündigen Bürger überlassen, wie er leben will; wie er seine Haare tragen will? Wer soll diese Entscheidungen denn Ihrer Meinung nach für uns treffen!
Dass Sie darüberhinaus das Bild erzeugen, die von Ihnen befürchtete Uniformität sei ein Phänomen einer Universität in Bayreuth, ist da völlig nebensächlich. Die Gesamtbotschaft, die Ihren Text durchdringt ist nämlich bereits eine völlig negative! Ganz ehrlich? Finden Sie wirklich, dass so guter Journalismus aussieht:
a. Abgedroschene Phrasen nachbeten, einem Hellseher gleich, der allgemeine "Volksweisheiten" von sich gibt, in der Hoffnung, sein Gegenüber identifiziere einen wahren Kern...
b. Rein destruktive Verteufelung eines mehrheitlichen Verhaltens nach dem Motto: Was viele meiner Mitmenschen für richtig empfinden, muss falsch sein! Ich weiss zwar nicht warum und habe auch keine bessere Lösung! Aber: Ich bin dagegen! Aus Prinzip! Nieder mit dem "Establishment"! Jedem seine Hosentaschenrebellion als Zeichen seiner Individualität ohne Rücksicht auf meine Mitmeschen. Schließlich bin ich das Zentrum des Universums, um dessen Selbstverwirklichung sich alle Planeten drehen sollten!
Ein solcher Artikel ist gar kein Beinbruch! Wichtig ist nur, die Möglichkeit der Einsicht, die man aus dem Fehltritt ziehen kann. Wir alle sind auf dem Weg. Machen auch Sie sich auf! Und mit etwas Einsatz und Willen werden auch Sie es sicher schaffen, einmal ehrliche und überzeugende Journalistik zu betreiben. Für dieses Vorhaben wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute!
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