Jugendtheater: Kinder haben zu wenig Grips
Die Kinder- und Jugendtheater kämpfen ums Überleben: Die Schulklassen machen sich rar. Im Kulturausschuss fordert der Intendant des Grips-Theater daher mehr Geld - die Opposition auch.
Im Senat nennen sie es das "jährliche Vorsingen". Heute ist es wieder soweit: Die IntendantInnen der Berliner Theater geben Auskunft über ihre Haushaltslage. Das Jammern über Unterfinanzierung und brutale Sparvorgaben gehört dabei zum Standardrepertoire. Diesmal aber dürfte eine neue Klagenote die Abgeordneten beunruhigen: Der Besucherrückgang bei den Kinder- und Jugendtheatern. Besonders das traditionsreiche Westberliner Grips Theater leidet darunter. 2006 verzeichnete es zwölf Prozent weniger Publikum als im Vorjahr, das sind 10.000 verkaufte Karten weniger. "Katastrophal" sei das, sagt Grips-Intendant Volker Ludwig. Er will daher heute eine Erhöhung seiner bisherigen Jahreszuschüsse von 2,5 Millionen Euro beantragen - für Marketing und mehr Personal. Denn von alleine, sagt er, kommt sein Publikum nicht wieder.
"Kulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen hat Vorrang": So steht es im Koalitionsvertrag. KünstlerInnen, so das Konzept, sollen an den Schulen kulturelle Zusatzerziehung leisten. Die Politik solle sie dabei nach Kräften unterstützen, zum Beispiel im Rahmen einer ressortübergreifenden "Offensive Kulturelle Bildung". Doch ein Jahr nach Inkrafttreten des Koalitionsvertrags ist das Feld "Kulturelle Bildung" eine Baustelle. Von der Künstlerinitiative "Tanzzeit" bis zum "Rat für die Künste" engagiert sich zwar eine Vielzahl von Akteuren für die kulturelle Teilhabe junger Menschen. Von Koordinierung ist allerdings bisher wenig zu sehen.
"Es regiert das Chaos", urteilt die Grüne-Kultursprecherin Alice Ströver. Auf das für Mai geplante ressortübergreifende Konzept wartet die Oppositionspolitikerin immer noch. An dem, was die Koalition bisher zuwege brachte, lässt Ströver kein gutes Haar. "In planlosem Aktionismus stampft man schnell ein paar unvernetzte Einzelprojekte aus dem Boden, die bestehende Strukturen gefährden."
Die kürzlich mit großem Tamtam gegründete Koordinierungsstelle "Künste und Partner" im Podewilschen Palais verfügt gerade einmal über zwei Angestellte und 420.000 Euro pro Jahr. Das ist wenig für die Bündelung der zahllosen Einzelinitiativen. Aber auch viel, wenn man bedenkt, dass es mit der "Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung" bereits eine solche Koordinierungsstelle gibt. "Künste und Partner", kritisiert Ströver, sei hauptsächlich eine "Patenschaftslösung für die großen Kultureinrichtungen", die sich zusammen mit Kulturstaatssekretär André Schmitz den Besuchernachwuchs von morgen heranzüchteten.
"Das wird alles ganz falsch angepackt", sagt auch Herbert Mondry vom Bundesverband Bildender Künstler (BBK). Der Senat, so seine Kritik, wälze die Verantwortung für die Umsetzung der "Offensive Kulturelle Bildung" auf die Kulturverwaltung ab. Doch dort habe das Thema nichts zu suchen. "Die Schulen sind Aufgabe der Bildung. Aber solange wir keinen aufgeschlosseneren Bildungssenator haben, wird die kulturelle Bildung im Klein-Klein der Kulturtöpfe ertrinken", befürchtet Mondry.
Im November wollen Bildungs-, Jugend- und Kultursenat immerhin ein gemeinsames Rahmenkonzept vorlegen. Dieses soll zum ersten Mal auch einen Überblick über die bisherige Situation bieten. In den Haushaltsverhandlungen wird das Parlament außerdem über einen eigenen Fördertopf für kulturelle Bildung abstimmen. Nach dem Vorbild des Hauptstadtkulturfonds sollen darin projektbezogene Mittel verwaltet werden -aus den Etats der Bildungs-und Kulturverwaltung.
Renate Breitig kann sich erst einmal über eine Erhöhung ihres Etats freuen. Die Leiterin des Projekts Theater an Schulen (TuSch), das Partnerschaften zwischen Theatern und Schulen vermittelt, leistet schon seit Jahren, was die Politik neu entdeckt hat: Sie bündelt einzelne Bemühungen, junge Menschen an Kultur heranzuführen. Angesiedelt ist TuSch bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Für die Haushaltsperiode 2008/2009 soll Breitig zum ersten Mal mehr Geld bekommen: Ganze 60.000 Euro pro Jahr, ein Bruchteil des Etats der neuen Koordinierungsstelle.
Genug ist das nicht, denn der Weg zum Theater ist holpriger geworden, wie Breitig weiß: "Während andere Medien omnipräsent sind, muss man Lehrer und Schüler zur Bühnenkunst erst hinführen." Das aber lohne sich, sagt die Theaterfreundin: "Theater ist live, direkt und fördert die Sensibilität."
Bei der Opposition rennt der Grips-Chef damit offene Türen ein: 850.000 Euro zusätzlich müssten die Jugend- und Behindertentheater bekommen, sagte der kulturpolitische Sprecher der CDU-Fraktion Michael Braun am Wochenende. Je 300.000 Euro sollten an das Theater RambaZamba in der Kulturbrauerei sowie an das Kindertheater Atze an der Luxemburger Straße gehen. Für das Grips fordert die CDU 100.000 Euro zur Entschuldung und zusätzliche Zuschüsse in Höhe von 150.000 Euro.
Tatsächlich hat das Grips trotz einer guten Auslastung von 85 Prozent 100.000 Euro Defizit. Denn der Etat ist so knapp kalkuliert, dass jede Vorstellung zu 95 Prozent voll sein müsste. Dauerbrenner wie das Musical "Linie 1" füllen das Haus zwar spielend, doch aktuelle preisgekrönte Jugendstücke wie "Nellie Goodbye" verfehlen ihr Zielpublikum: die SchülerInnen. "Seit Anfang 2006 bleiben uns plötzlich die Klassen weg", sagt Ludwig, der seit 1972 das "Mutmachtheater" für Kinder betreibt. An den Kindern läge es nicht, sagt der 70-Jährige. Die seien von sozialkritischen Stücken wie "Auf die Fresse" begeistert. Anders die von Mittlerem Schulabschluss, Vergleichstests und Schulzeitverkürzung überforderten Lehrer: Die hätten nicht mehr Luft genug, sich mit außerschulischen Kulturveranstaltungen zu belasten, vermutet Ludwig.
Auch das Lichtenberger Theater an der Parkaue, das vor allem Klassiker im Programm hat, kämpft um Schulkinder. "Die Lehrer stehen einem Theaterbesuch zunehmend skeptisch gegenüber", beobachtet Geschäftsführer Jürgen Lautenschläger. Dass das landeseigene Haus mit drei Bühnen seit Anfang 2007 trotzdem steigende Zuschauerzahlen verzeichnet, liegt an einer neuen Marketingoffensive. Theatermitarbeiter suchen die Schulen auf und beraten Lehrer, wie sie den Theaterbesuch in den Unterricht integrieren können. Die Erfahrungen sind gut, so Lautenschläger: "Die meisten sind dankbar, nicht nach Feierabend Spielpläne wälzen zu müssen."
Vergangenes Jahr gründete das Theater an der Parkaue einen eigenen Sozialfonds. "Wir müssen Rücksicht auf die Berliner Sozialstruktur nehmen", sagt Lautenschläger. Für Kinder aus armen Familien sei selbst ein subventionierter Eintrittspreis von 3,75 Euro zu teuer. "Alle sollen mit" ist deshalb das Motto des Fördertopfes aus Spenden von Institutionen und Einzelpersonen, der bisher 2.720 Kindern den Theaterbesuch für 1,50 Euro ermöglichte. Das habe sich gelohnt, so Lautenschläger: "Wir haben die Talsohle durchschritten, die Schüler kommen wieder."
Nach Ansicht von Heinz Beinert brauchen die Kinder- und Jugendtheater Hilfe von ganz oben. "Theaterbesuche sollten im Lehrplan verankert werden", fordert der Leiter des Jugendkulturservice. Dieser sorgt dafür, dass der Eintritt für SchülerInnen überhaupt erschwinglich ist. Pro Karte schießt die Institution im Auftrag des Bildungssenats 1,50 Euro zu. Beinerts Forderung nach einem von oben verordneten Theaterbesuch dürfte aber wenig Chancen haben - sie läuft der Schulautonomie zuwider.
Was man sonst tun könnte, beantwortet demnächst womöglich eine Untersuchung, die Beinert und seine Kollegen in Auftrag gegeben haben. Denn auch sie vermuten, dass neben den gesunkenen Schülerzahlen die Lehrplanreformen und Hartz IV für den Besucherschwund verantwortlich sind. Dann aber ist die Politik gefordert - abseits des jährlichen Vorsingens.
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