Jugendsünde? Ausgelöscht!: Piss gegen deine alte Schule!

Aron denkt bis heute an den furchtbarsten Moment seiner Schulzeit. Aber all die wunderbaren Jahre mit seiner Schulfreundin Emma hat er vergessen. Warum?

Autor Aron Boks steht an einer Hauswand, zwischen zwei roten Metalltüren, und uriniert (vermeintlich).

Aron will sich für seine Schulzeit rächen und beschließt, gegen seine alte Schule zu urinieren. Foto: Paul Heidger

Von Aron Boks

taz FUTURZWEI, 26.10.2022 | Es ist jedes Mal dasselbe, wenn ich mit dem Auto aus Berlin zu meinen Eltern nach Wernigerode in den Harz fahre. Ich liebe diesen Ort, denke nie an etwas Böses – und plötzlich taucht das Ortsschild der Nachbarstadt auf, in der ich die Schule besuchte.

Ich umklammere das Lenkrad, schwöre mir beim nächsten Mal wirklich wieder mit dem Zug zu fahren, der nicht durch diese Stadt führt, und versuche mir kurzfristig selbst gut zuzusprechen:

Aron-Boks

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

Lass dich nicht ärgern, denke ich dann. Du hast einen Job, der dir Spaß macht, eine Wohnung in der geilsten Stadt Deutschlands und die Patenschaft für einen Esel im Havelland. Das ist doch toll!

Aber es bringt nichts – immer, wenn ich hier durchfahre, überkommt mich die Erinnerung an den wohl peinlichsten Moment meiner Schulzeit. Dem, in dem ich vor den Augen der gesamten Jahrgangsstufe nach Hause geschickt wurde, weil ich gegen das unterschriebene Alkoholverbot verstoßen hatte. Schon vor dem Abflug von Berlin-Tegel. Ich dachte, das würde lustig werden. Nur sahen meine Lehrerinnen das anders, als sie mich vor versammelter Mannschaft zusammenfalteten. Während ich versuchte das Gekicher der Schüler:innen zu ignorieren und winselnd darum bat, sie mögen doch bitte ein Auge zudrücken. Es half nichts. Für mich ging die Reise statt nach Rom zurück in den Harz – und damit in die schlimmsten Wochen meiner Restschulzeit.

Vielleicht sind die Schüler:innen von damals gerade auch zu Besuch, denke ich, als ich durch die Stadt fahre. Die hatten mir nach der Klassenfahrt versichert, dass die Sache vergessen sei. Doch am Tag der Abiturzeugnisse entdeckte ich ein Foto in der Abschlusszeitung, auf dem ich heulend am Flughafen Tegel stehe.

Natürlich habe ich das Heft weggeworfen und denke heute auch nicht jeden Tag daran. Aber immer, wenn ich zu meiner Familie fahre, spielt sich eben dieser Film ab und verdirbt mir die Laune. Und nicht nur das: Egal wie sehr ich auch versuche, mich an schöne Momente aus meiner Kindheit zu erinnern, irgendwann schiebt sich immer diese Peinlichkeit in Form meines ehemaligen Schulgebäudes davor. Bis heute.

Trotz der neuen Wohnung, trotz der neuen Stadt. Langsam wird es Zeit für eine Vergangenheitskorrektur.

Weg mit dem Schulzeitdreck!

„Bist du dabei?”, frage ich meinen Bruder noch am selben Abend beim Essen.

„Was meinst du?”

„Die Schulwand, du weißt schon.”


„Natürlich nicht.“

Na, toll. Damals fand er meine Idee lustig, als Akt des Exorzismus gegen unsere alte Schule zu pissen. Jedenfalls als er 16 und ich 19 war.

„Ich dachte, das war ein Spaß!”, sagt er heute.

Am nächsten Tag fahre ich also allein mit dem Auto zu dem Park, der mich so nah an das Schulgebäude wie möglich führt, ohne erkannt zu werden. Ich atme tief durch und exe den Rest meiner Wasserflasche. Neben einer baumkronengeschützten Stelle des Schulgeländes schließe ich die Augen, öffne sie, presse sie zusammen. Ich habe eineinhalb Liter Wasser getrunken, komm schon!

Doch es kommt nicht. Bitte jetzt keine nervigen Erinnerungen, denke ich. Dieser blöde Park. Emma und ich sind hier immer durchgerannt, weil wir uns auf dem Schulweg verquatscht hatten. Wir wuchsen in dieser Kleinstadt auf wie Geschwister, aber ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht. Auch nicht, wenn ich zu meinen Eltern gefahren bin. Immer nur an diese doofe Schule und das Klassenfahrtsfoto. Wieso dann ausgerechnet jetzt dieser Flashback?

Ich wollte doch hier den Dreck meiner Vergangenheit von den Schuhen pissen, mit denen ich diese Stadt verlassen habe. Aber um ehrlich zu sein weiß ich gar nicht mehr, welche ich damals getragen habe. Vielleicht speichert man in Eile die falschen Sachen ab. Aus Zeiten und Orten, die man schnell verlassen musste. Ich habe hier dreizehn Jahre meines Lebens verbracht und denke doch an diese fünf furchtbaren Minuten in der zwölften Klasse. Und nicht an all die Jahre mit Emma.

Lebensfragen auf dem Schulweg

Ich uriniere gegen einen Parkbaum und laufe zum Auto.

Über den kleinen Trampelpfad, der sich noch genauso wie früher über den stolz gepflegten Parkrasen vor dem Schulzaun in Richtung Stadt zieht. Mit Platz für zwei Schulkinder, die nebeneinander herlaufen können, während sie – genau wie Emma und ich – Tag für Tag, von Klasse eins bis zehn, die ganz großen Themen des Lebens besprechen.

„Aron, mach dir keine Sorgen, ich werde deiner Mutter einfach sagen, dass ich in Mathe nur eine Zwei bekommen habe. Dann wirkt deine Drei weniger schlimm.”

„Nein, Aron du wirst nicht ewig nur ein Meter vierzig groß bleiben.”


„Ja, Aron, ich werde Lilli fragen, ob sie mit dir ein Eis essen geht. Aber beim nächsten Mal machst du das allein, ja?”


„Klar, lad' ich dich zu SchülerVZ ein.”

„Nein, ich glaube nicht, dass man von zwei Zigaretten Lungenkrebs bekommt.”

„Aron, du rauchst zu viel!”

Das war mein Leben. Wie konnte ich das alles verdrängen?

Einfach mal abhaken!

Die Frage, wie ich es hinbekommen sollte, die letzten Wochen bis zum Abitur unter der Peinlichkeit dieser Klassenfahrtaktion zu überleben, konnte ich ihr nicht mehr stellen. Zu der Zeit war Emma schon längst an einem anderen Ort. Ich glaube, nicht einmal mehr ihre aktuelle Nummer zu besitzen. Ich habe mich auch nie darum bemüht – verdammt! Im Auto checke ich ihr Insta-Profil. Inzwischen lebt sie in Kanada, ist Ärztin, hat ein Haus, einen Mann, ein Kind und einen Hund.

Und ich bin hier her gefahren, um gegen unsere Schulwand zu pissen.

Ich rufe meinen Bruder an.

„Warum wäre das ein falsches Statement, gegen die Schuldwand zu pissen?“

„Aron, das Thema muss doch einfach mal abgehakt sein.”

Momente für später

Ich sehe wieder rüber auf den Weg im Park Richtung Straße, die zum Haus von Emmas Mutter führt. Ich würde es mit verbundenen Augen finden. Vielleicht hält Emma sich selbst gerade dort auf. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte. Jedenfalls nichts, was besser wäre als die Antworten auf die Fragen von damals, die sie mir auf diesem Weg zur Schule schenkte. Gegen die zu pissen jetzt immer unmöglicher für mich wird. Vielleicht weil diese eine schlimme Erinnerung an dieser Schulwand immer schwieriger zu erkennen ist.

Das mit der Klassenfahrt war peinlich, war ungerecht, denke ich später im Auto. Dass Emma für mich (und ich für sie) einfach verschwunden ist, obwohl man sich so viel bedeutet hat, ist doch aber viel schlimmer. Nur wie kann man dagegen rebellieren? Niemand trägt die Schuld daran.

In solchen Momenten erklärt das Leben nichts, sondern leitet die Verdrängung ein. Und irgendwann steht man dann doch an einem Ort, der einen zurück erinnert und muss dann Dinge denken wie: „So etwas passiert einfach, dass man sich verliert“, weil wir es ja auch nicht besser wissen. Weil wir immer denken, dass ewig Zeit bleibt. Zumindest war das für mich und Emma klar. Und trotzdem haben wir kein Gespräch und kein Thema auf später verschoben. Vielleicht war das genau richtig und doch gäbe es jetzt so viel zu sagen. Vielleicht weiß ich irgendwann, wo ich anfangen soll. Und dann schreibe ich ihr, ganz bestimmt.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.

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