Jugendproteste in Moskau: Das Ende des Homo sovieticus
Russlands oppositionelle Jugend lässt sich von Polizeigewalt nicht einschüchtern. Mit einer Vielzahl von Happenings fordert sie den Staat heraus. Der ist ratlos.
MOSKAU taz | Junge Leute ziehen singend und lachend um den Springbrunnen auf dem Kudrinplatz im Moskauer Zentrum. Viermal umkreisen sie die Fontäne, danach setzen sich die beiden Gitarrespieler an der Spitze des Zuges wieder auf eine Parkbank, die übrigen verteilen sich auf Isomatten. In einer Ecke hält jemand einen Vortrag über Karikaturen, für den Abend ist ein Workshop über Architektur angekündigt. Tagsüber sind es 100 bis 200 Demonstranten, die in dem improvisierten Lager ausharren.
Gegen Abend füllt sich der Platz. Dann findet auch die Vollversammlung statt. Transparente und Megafone sind verboten. Man behilft sich, indem an verschiedenen Stellen in der Menge die Worte des Redners wiederholt werden. „Großes Mikro“ heißt das Prinzip. Das Lager wiederum ist eine erweiterte Form des „flanierenden Volkes“.
Moskau erfindet seit der Vereidigung Wladimir Putins zum neuen russischen Präsidenten neue Protestformen. Am vergangenen Wochenende zum Beispiel riefen Schriftsteller zu einem „Kontrollspaziergang“ auf. Bestsellerautor Boris Akunin wollte prüfen, ob Moskauer in ihrer Stadt ungehindert herumlaufen dürfen oder inzwischen eine Sondererlaubnis erforderlich ist.
15.000 Hauptstädter folgten dem Aufruf und schlenderten zum Denkmal des kasachischen Dichters Abai – zum ersten Lager der Protestbewegung, das nach der Großdemonstration am 6. Mai errichtet wurde, bis die Polizei es am Dienstag räumte. Der Kudrinplatz im Schatten der US-Botschaft dient jetzt als Ersatzlager. Auch ein Großaufgebot der Polizei zog mit.
Zelte und Plakate sind verboten
Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitsorganen trägt komödiantische Züge. Zelte und Plakate sind verboten, überhaupt ist alles untersagt, was nach politischem Dauerprotest aussieht. Die Protestler halten sich daran. Dennoch greift die Polizei gelegentlich zu und nimmt einige fest. „Widerrechtliche Essensausgabe und Versorgung mit Trinkwasser“ gab zuletzt dazu Anlass. Die Ökoaktivistin Jewgenija Tschirikowa und Ilja Jaschin von der Bewegung Solidarnost fuhren ein, Jaschin wurde im Schnellverfahren zu 10 Tagen Haft verurteilt.
Die Oppositionellen Blogger Alexej Nawalni und Sergej Udalzow erhielten schon letzte Woche 15 Tage Haft wegen „Organisation einer nicht genehmigten Veranstaltung“. Die Verhaftung der oppositionellen Frontfiguren hat indes nicht – wie von den Behörden erwartet – zum Abbruch des Protests geführt. Im Gegenteil, die Bewegung kommt auch ohne Führer aus und organisiert sich selbst.
Die angstfreie Generation
Die jüngeren Teilnehmer leiden nicht mehr unter dem Komplex der älteren Generation, des Homo sovieticus, dem das Selbstbewusstsein und die Eigeninitiative ausgetrieben worden war. Russlands politisch Verantwortliche entstammen noch ebendieser unterwürfigen Kohorte, die auf Einschüchterung und Angst setzt; die Jugend gibt sich erstaunlich angstfrei. Zum Teil erklärt das die Ratlosigkeit, mit der die Machthaber auf erfinderische Widerstandsformen reagieren.
So liegt der Duma ein Gesetzesprojekt vor, das die Geldstrafen für die Teilnahme an ungenehmigten Demonstrationen drakonisch auf bis zu 30.000 Euro erhöhen will. In letzter Minute wurde am Freitag die Verabschiedung verschoben. Dem Protest würde das Gesetz ohnehin keinen Abbruch tun. Vermutlich gehen dann nur noch mehr Demonstranten auf die Straße.
Das kennzeichnet das Dilemma, in dem die politische Führung steckt: Lässt sie den Protest ohne Gegenwehr gewähren, weitet er sich aus. Unternimmt sie etwas dagegen, bringt sie noch mehr Menschen gegen sich auf.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
Erstwähler:innen und Klimakrise
Worauf es für die Jugend bei der Bundestagswahl ankommt
Sauerland als Wahlwerbung
Seine Heimat
Pragmatismus in der Krise
Fatalismus ist keine Option
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte