: Jugendliche sind Kondommuffel
■ Oldenburger Studie: Jugendliche kennen Aids-Risiko, verdrängen es aber
Aids, Infektionsrisiken und Vorsorge sind vor allem die Probleme der anderen. So jedenfalls sieht es das Gros der Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren. Wissenschaftler der Uni Oldenburg haben herausgefunden, daß die meisten Jugendlichen zum Thema Aids zwar mehr oder weniger Bescheid wissen, in ihrer eigenen Lebenswelt aber munter gegen fundamentale Leitsätze der Aids-Prävention verstoßen.
Drei Jahre lang hat die Forschungsgruppe Aids-Prävention bei Jugendlichen der Uni Oldenburg unter der Leitung des Diplom-Psychologen Wilfried Belschner und des Sozialwissenschaftlers Stefan Müller-Doohm 2.512 Jugendliche über ihr Wissen zum Thema Aids und ihr Sexualverhalten befragt. Dazu hatte sie für alle einen Fragebogen entwickelt und die Forschungen mit einzelnen Interviews ergänzt. Befragt wurden SchülerInnen aus allen Schulformen sowie StudentInnen, Soldaten und Zivildienstleistende. Herausgekommen ist, was die Wissenschaftler „Paradoxien der Aids-Aufklärung“ nennen.
Sexuelle Treue gegenüber dem Partner zum Beispiel ist zwar im Lippenbekenntnis durchaus zeitgemäß bei den Jugendlichen angesagt, die Praxis sieht aber anders aus: „Ein Fünftel der Jungen und knapp ein Zehntel der Mädchen geben im Fragebogen an, während der (letzten) Beziehung Geschlechtsverkehr mit einer oder mehreren Personen außer Deinem Partner/Deiner Partnerin gehabt zu haben.“
Aus aidspräventiver Sicht ist dabei besonders bedenklich, daß die Jugendlichen sich kaum mit ihren Partnern über ihre Seitensprünge unterhalten. Nur 22% der Männer und 38% der Frauen thematisieren ihren Seitensprung. Die meisten, die nichts sagen, schlafen nach einem Seitensprung auch weiter ungeschützt mit ihren Partnern und erhöhen so das Infektionsrisiko. Im Fragebogen hatten „55% der Mädchen und ein gutes Viertel der Jungen (angegeben,) bei einem Seitensprung nie ein Kondom“ zu benutzen.
Mit Kondomen scheinen die Jugendlichen insgesamt ihre liebe Not zu haben. Bei der Befragung gaben „40% der Heranwachsenden (an), daß es Situationen gab, in denen Schutzmöglichkeiten wie die Benutzung eines Kondoms nicht angewandt wurden, obwohl Du es dir vorgenommen hattest“. Unter den Jugendlichen hat das Kondom nämlich einen zweifelhaften Ruf: Weil es als Verhütungsmittel ausgedient hat (die Pille herrscht als Verhütungsmittel vor), gilt das Kondom als „Indikator für das Vertrauen bzw. Mißtrauen zwischen den Partnern (und ist) emotional negativ besetzt“. Wer vor oder beim Sex das schützende Gummi zur Sprache bringt, unterstelle seinem Partner automatisch zweifelhafte sexuelle Kontakte, glauben viele Jugendliche. Die meisten der Befragten bringen das Infektionsrisiko nämlich automatisch mit Prostitution und Drogenabhängigkeit in Verbindung. Die Krankheit ist „in ihrer kurzen Geschichte bereits ausgiebig für die Manifestation von Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber Randgruppen mißbraucht worden“, schließen die Wissenschaftler daraus. Die Befragung fand statt, bevor die Infektionsfälle durch HIV-positives Blut bekannt wurden.
Über ein Drittel der Befragten empfindet schließlich Peinlichkeit beim Kauf von Kondomen, nur 38% der männlichen und 25% der weiblichen Befragten lehnten den Satz ab: Ich finde, Kondome sind ekelig. Bei den männlichen Jugendlichen spielen auch Versagerängste mit: Errektionsverlust beim Hantieren mit dem Gummi und fehlender Praxis beim Überstreifen haben in der Erinnerung der jungen Männer bittere Narben hinterlassen. Die Befragung zeigte auch: Mädchen erwarten von ihren Partnern professionellen Umgang mit dem Gummi, die Jungens schämen sich oft, ihre fehlende Praxis zu thematisieren.
Verpönt sind auch Aids-Tests unter den Heranwachsenden, Anspruch und eigene Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Während 80% der Befragten angaben, daß ein HIV-Test vor Beginn einer dauerhaften Beziehung wichtig sei, haben nur 6,4% tatsächlich einen Test hinter sich. Dies sei vor allem ein Hinweis darauf, daß es den Jugendlichen „häufig an Mut fehlt, den eigenen Infektionsstatus zu klären“, schreiben die Wissenschaftler.
Subjektiv wird von den Befragten die Gefahr, an Aids zu erkranken, eher als unwahrscheinlich eingestuft. Deutlich mehr fühlen sich etwa durch das Ozonloch, durch radioaktive Verseuchung oder Trinkwasservergiftung bedroht. Mehr Fakten, mehr Aufklärung und ein von Kontrolle und Leistung unabhängiges Vermittlungsklima fordern die Wissenschaftler, um die löchrige Präventionsmoral der Jugendlichen im eigenen Alltag zu heben. Für die Aidsaufklärung an Schulen sollte es externe Sachverständige geben. Die Jugendlichen erzählten in den Interviews, daß sie sich der Kontrolle ihrer Lehrer ausgesetzt fühlten, wenn sie beim Thema Aids ihre Sexualität und Instimsphäre praktisch preisgäben.
Markus Daschner
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