Jugendliche Massenmörder: Der doppelte Kontrollverlust
Wer die Ursachen von Amokläufen verstehen will, muss die Bedingungen beachten, unter denen Jugendliche aufwachsen - und die Konsequenzen mangelnder Anerkennung.
WILHELM HEITMEYER, Jahrgang 1945, ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und Herausgeber mehrerer Schriftenreihen, unter anderem "Jugendforschung" (Juventa), "Kultur und Konflikt" und "Deutsche Zustände" (beide Suhrkamp).
Diese Analyse ist nicht auf den Vorgang in Winnenden bezogen. Belastbares Wissen über diesen Fall kann nicht vorliegen. Stattdessen basiert dieser Text auf desintegrations- und jugendtheoretischen Überlegungen sowie empirischen Auswertungen der Vorgänge in Littleton (1999), Erfurt (2002) und Emsdetten (2006).
Insbesondere der Amoklauf an der Columbine Highschool steht im Mittelpunkt, weil dieser als Vorbild für weitere Taten gilt. Dies ist insbesondere mit der Kommunikation der virtuellen Fangemeinde im Internet belegbar, an der nicht wenige weibliche Jugendliche teilnehmen.
Um diese Abläufe angemessen zu analysieren, soll hier von einer These ausgegangen werden, die auf einen doppelten Kontrollverlust fokussiert. Der Kontrollverlust bei den Tätern besteht im Anerkennungszerfall und damit im Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Auf der gesellschaftlichen Seite gibt es einen Kontrollverlust, weil zwar vielfältige Hintergrundkonstellationen bekannt sind, es aber keine Kenntnisse über die situativen Auslöser gibt, sodass die Verhinderung kaum gelingt. Dies hat Effekte.
Die Einordnung solcher Massaker durch Öffentlichkeit und Politik folgt immer wieder typischen rituellen Erklärungsmustern, sodass die Kontrollverluste überdeckt werden. Von "Heimsuchung" sprach etwa 2002 der Ministerpräsident Thüringens, von einem "psychisch schwer gestörten Täter" ein kriminalpsychologischer Experte per Ferndiagnose im Fernsehen.
Die ersten Einordnungen erklären solche Verbrechen zum quasi übernatürlichen Ereignis oder pathologisieren sie. Beiden Erklärungen gemeinsam ist ihre Distanz zur sozialen Realität. Es werden gesellschaftlich entlastende Deutungen geliefert, um schnell wieder "Normalität" herzustellen: Gegen eine "Heimsuchung" kann man nichts tun, weil sie schicksalhaft ist. Und pathologische Täter können von einer ansonsten angeblich intakten Gesellschaft isoliert werden.
Beide Interpretationen lassen die konstitutiven Merkmale von Gewalt unberücksichtigt: Gewalt ist eine für jedermann verfügbare und hocheffektive Ressource. Sie hat immer eine Vorgeschichte und ist stets, gegen wen sie sich auch richtet, eine Machtaktion. Diese Einsicht verunsichert ebenso, wie die Tatsache, dass Massaker jederzeit möglich und kaum zu vermeiden sind, eben Kontrollverluste erzeugt.
Um sich nicht mit den Ursachen des strukturellen Kontrollverlusts auseinandersetzen zu müssen und um sich zu beruhigen, zielt der dominierende öffentliche Diskurs darauf, derartige Phänomene von gesellschaftlicher Normalität abzutrennen.
Wo aber sind die beunruhigenden Quellen dieser Prozesse zu suchen? Ist es die anthropologische Grundausstattung? Die Forderung nach Aufrüstung der Polizei zwecks Überwachung "anfälliger" Institutionen wie Schulen, Kirchen und Stadien ist populär, zielt aber nur auf Symptome. Um in die Tiefe zu gehen, muss man bei den Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen ansetzen.
Diese zeigen ein Doppelgesicht: Die Gestaltbarkeit von Lebenswegen wird größer, aber der Gestaltungszwang nimmt zu. Allerdings ohne dass junge Menschen genau wissen, ob sie Chancen und Optionen haben - und ohne dass sie wissen, für welche davon sie sich entscheiden sollen, um in der Gesellschaft eine Stellung und Anerkennung zu erreichen. Dabei gibt es für sie drei Möglichkeiten: über Leistungen in der Schule, über äußerliche Attraktivität oder über die Demonstration von Stärke. Das gesellschaftlich Leitbild besagt, dass eine anerkannte Stellung nur zu erreichen ist, wenn man andere unter "Kontrolle" hat und man sich von anderen unterscheidet. Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen, und wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts.
Es gehört zur Ideologie der Aufstiegsgesellschaft, dass Jugendliche zumindest den Status ihrer Herkunftsfamilie erreichen müssen. Am besten aber verbessern sie diesen noch. Das allerdings fällt immer schwerer, denn heute sind eher prekäre Lebensplanungen und Lebensläufe der Normalfall. Ambivalenz wird zum zentralen Lebensparadigma: Die Chancen zur eigenen Lebensgestaltung steigen, aber die Berechenbarkeit der Lebensplanung nimmt ab. Die prekäre Normalität wird zum Normalfall.
Wir fühlen uns sicher, wenn wir von Normalität sprechen, also in unserer Welt nichts "auffällig" ist. Entsprechend groß ist die Irritation, wenn ein scheinbar "ganz normaler" Junge unfassbare Gewalt anwendet. Es liegt dann nahe, ihm den Stempel "psychisch schwer gestört" aufzudrücken. Sobald wir ihn als "Anormalen" aus unseren Kreisen ausgegrenzt haben, können wir uns behaglich zurücklehnen und uns in "unserer Normalität" wieder sicher fühlen.
Normalität - das heißt in dieser Gesellschaft: Ein Mensch identifiziert sich in hohem Maße mit den zentralen prämierten Werten wie Leistung, Selbstdurchsetzung und Aufstieg. Diese Botschaft ist auch bei den Jugendlichen angekommen und erzeugt einen hohen Druck.
An dieser Normalität, an diesen festen wie rigiden Normen zu scheitern, ist umso schmerzhafter, je intensiver man diese Wertvorstellungen aufnimmt und verinnerlicht; also wenn man zum Beispiel mit allen Mitteln das Abitur machen will. Die Erschütterung der Normalität ist vorprogrammiert, wenn es nicht klappt oder wenn Statusdruck erzeugt wird, aber kaum entsprechende Statuspositionen zur Verfügung stehen. Eine mögliche Folge: Die Reaktionen des "Gescheiterten" werden - gerade wenn er sich wie bei einem Schulverweis, der tief in das weitere Leben eingreift, ungerecht behandelt fühlt - außer Kontrolle geraten. Es entsteht ein "Tunnelblick", der kaum noch ein anderes Konfliktlösungsmuster als die Gewalt zulässt. Erfurt hat z. B. deutlich gemacht, wie prekär die gesellschaftliche Normalität ist, wie schnell sie fundamental erschüttert werden kann.
Deshalb ist die Frage zu stellen, was Gewalt hervorbringt, warum ein Mensch das Leben, auch das eigene, so radikal abwertet und so extrem auf die Demonstration von Macht setzt.
Die Antworten führen in die Richtung sozialer Desintegration. Damit geht es um das Problem der Anerkennung und im negativen Fall um Anerkennungszerfall, wenn Jugendliche keine befriedigende Antwort auf die basalen Fragen bekommen: Wer braucht mich? Wer hört mir zu? Wozu gehöre ich? Bin ich gleichwertig? Werde ich gerecht behandelt? Werden meine Gefühle akzeptiert?
Bedenkt man, dass niemand auf die Dauer ohne Anerkennung leben kann und insbesondere Jugendliche unter den skizzierten Bedingungen der Ambivalenz der Aufwachsens in einer prekären Normalität leben, dann ist hohe Aufmerksamkeit auf das gesamte Setting der Anerkennungsquellen des sozialen Umfeldes, der Entscheidungs- und Handlungskompetenzen des Täters sowie auf die Beeinflussungsfaktoren wie vor allem den Medienkonsum zu richten. Diese drei Komponenten sind in ihrem Zusammenwirken zu betrachten, um einschätzen zu können, ob und wie sich in einem weiteren Schritt ein Eskalationsprozess abzeichnen kann. Die Anerkennungsquellen stellen den zentralen Ansatzpunkt dar.
Für Jugendliche sind drei Erfahrungsbereiche von höchster Relevanz: Die Schule stellt vielfältige Anerkennungsressourcen bereit, insbesondere über Leistung, um Voraussetzungen für eine positionale Anerkennung im späteren Leben zu erwerben. Zugleich ist die Institution von Missachtungsaktivitäten durch die Lehrerschaft, vor allem auch Mitschüler und Mitschülerinnen durchsetzt.
Die Familie variiert in ihrer Bedeutung mit dem Lebensalter, gleichwohl bleibt die Anerkennungsquelle der Liebe, mithin die emotionale Anerkennung. Gleichzeitig ist der Entzug durchaus relevant, wenn etwa das Statusverhalten von Eltern ausgeprägt ist, d. h. Leistung und Aufstiegsambitionen an emotionale Anerkennung gebunden werden.
Die Gleichaltrigengruppe ist gerade in der Jugendphase von höchster Relevanz sowohl bei gleichgeschlechtlichen wie geschlechtlich unterschiedlichen Gruppen. Die Anerkennungsquellen sind Zugehörigkeiten und Stärke sowie erwiderte Attraktivität.
Für Jugendliche stellt sich aus desintegrationstheoretischer Sicht nun die Frage nach der Anerkennungsbilanz. Ist sie positiv, oder muss sich der Jugendliche mit einem subjektiv empfundenen Anerkennungszerfall auseinandersetzen?
Da es sich immer um Interaktionsprozesse mit Lehrern, Eltern und Gleichaltrigen handelt, sind diese Kontakte oder Beziehungen bei einem Anerkennungszerfall immer mit Ohnmachtsgefühlen verbunden. Da jede Person immer darum bemüht ist, eine positive Identität aufzubauen und zu sichern, stellt sich die Frage, wie Auswege aus dieser Ohnmacht bzw. Unterlegenheit gelingen können. Dabei sind die Kompetenzen zur Bewältigung solcher Konflikte vielfältig verteilt. Eine Variante ist die Überwindung der negativen Anerkennungsbilanzen und damit verbundener Ohnmacht durch Machtdemonstration. Gewalt ist die effektivste Variante, der die Gewaltfantasien gewissermaßen "zwischengeschaltet" sind, sie vermitteln also zwischen den Ohnmachtsempfindungen und der einsetzenden Planung von Gewalthandlungen.
Diese Planungen sind zum Teil langfristig angelegt. Im Columbine-Fall dauerte es über ein ganzes Jahr, denn es müssen die als effektiv angesehenen Verhaltensstrategien ausgewählt werden. So werden, wie im Fall von Emsdetten, die Gänge der Schule im Computer nachgebaut. Die medial bereitgestellten Gewaltspiele stellen Verhaltensmuster dar, um das "Wie" zu klären. Solche Einflüsse können also allenfalls die "Strategien" beeinflussen, die der Gewalttäter wählt. Sie sind aber meist nicht ausschlaggebend für die Entscheidung, das eigene Leben und das Leben anderer auszulöschen. Von größerem Gewicht dafür ist etwas anderes: dass der spätere Täter auf die oben genannten Fragen keine Antworten gefunden hat.
Das "Ob", also die Gewaltfähigkeit, wird nicht durch das Medienangebot bzw. die Mediennutzung erzeugt, sondern durch die nicht ertragbare negative Anerkennungsbilanz hervorgerufen. Dies reicht aber zur Taterzeugung noch nicht aus, denn es braucht Gewaltrechtfertigungen ("Warum"), um Gewaltschwellen abzusenken. Das heißt, es geht um Schuldzuweisungen für die negativen Anerkennungsbilanzen. Die Schule und die Gleichaltrigen sind zentrale Ziele dieser Zuweisungen, die zugleich zeitlich und örtlich berechenbar als Aktionsfeld der Machtdemonstration zur Verfügung stehen, um eine möglichst hohe Opferzahl zu erzeugen. Die Täter in Columbine wollten 250 Opfer. Schließlich gehört zum Setting die Handlungs-, das heißt die Waffenkompetenz ("Womit"), um tatsächlich die Unsterblichkeit, die endgültige, zeitgeschichtliche Anerkennung, zu erreichen.
Die genannten Bedingungen sind die Voraussetzungen für einen äußerlich unauffälligen, zunächst verdeckten Eskalationsprozess, dessen Richtung zunächst offenbleibt.
Dieser Prozess kann zur Anerkennungssucht, zum Streben nach Überlegenheit führen. Auch das Ziel der Gewalttat ist die Wiederherstellung von Anerkennung. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Umwelt darauf negativ oder positiv reagiert. In der Wahrnehmung eines Täters ist es schon positiv, wenn er mit seinem Verbrechen berühmt wird. Grandios erscheint ihm die Aussicht, sich durch Exzesse wie in Erfurt oder Littleton unsterblich zu machen.
Rache als Ausdruck von Hass stellt nur ein vordergründiges Motiv für Gewalt dar. Rache ist das letzte Glied in einer langen Ursachenkette. Man hat es mit Anerkennungszerfall zu tun - mit einem Gefühl, das entweder nur befürchtet wird oder sich auf Erfahrungen stützt.
Ein solcher Prozess greift die Substanz eines jeden Menschen an, wobei der Punkt, wann dieser Anerkennungszerfall einsetzt und wann er einen "Grenzwert" erreicht, von Fall zu Fall variiert. Es gibt keinen Automatismus, der in Gewalt gegen andere mündet. Das bedeutet aber auch, dass es kaum Vorwarnungen an die Außenwelt gibt. Dies ist der gesellschaftliche Kontrollverlust. Deshalb führen solche Taten zu einer so tiefen Verunsicherung der ganzen Gesellschaft.
Der Anerkennungszerfall ist also ein Prozess. Zentrale Normen wie die der Unantastbarkeit menschlichen Lebens respektiert der Betroffene nur noch, wenn er sich selbst von den anderen ausreichend anerkannt fühlt. Das heißt: Die Anerkennung von Personen und der Respekt von Normen stabilisieren sich gegenseitig. Dieser Prozess ist allerdings äußerst störanfällig, wenn Lehrer oder Eltern das Gerechtigkeitsgefühl verletzen. Die Folgen: Soziale Bindungen, emotionaler Rückhalt können verloren gehen. Dieser Weg in die Einsamkeit kann für einen Menschen so bedrohlich werden, dass er die Folgen seines Tuns für andere nicht mehr berücksichtigt. Die anderen verlieren an Bedeutung und damit aber auch die sie schützende Norm der Unversehrtheit: Die Gewaltschwelle sinkt bzw. löst sich völlig auf.
Der Prozess des Anerkennungszerfalls lässt sich am Beispiel des Massakers in Littleton nachzeichnen, wo zwei Jugendlichen 15 Menschen ermordeten. Die beiden Täter entwickelten gesellschaftlich durchaus prämierte Überlegenheitsfantasien, mussten aber gleichzeitig erkennen, dass sie nicht anerkannt waren. Sie wurden ignoriert, sodass sie ihre Einstellungen zum Leben insgeheim über einen längeren Zeitraum radikalisierten: Ihr Hass entlud sich gerade an besonders anerkannten Mitschülern, den Sportlern, aber auch an den besonders verachteten Personen, den Hispanics. Während der Tat lachten und kicherten die Mörder, um ein einziges und letztes Mal ihre Überlegenheit gegenüber denen zu demonstrieren, die ihnen Anerkennung verweigert hatten.
Die öffentliche Debatte über die Konsequenzen dreht sich immer wieder um schärfere Kontrollen, vor allem aber um die Werteerziehung junger Menschen. Doch empirische Studien zeigen: Unabhängig von ihrem persönlichen Schicksal und ihrem Scheitern sind oft gerade Jugendliche mit eigenen rigiden Normvorstellungen besonders gewaltbereit gegenüber anderen, die diese Normen missachten. Die Aufwertung der Moral, auch der Forderungen nach Gewaltfreiheit kann schnell ins Gegenteil umschlagen, wenn sich Enttäuschung über die Nichtrealisierbarkeit von Lebensplänen einstellt. Überdies: Wir haben es nicht mit einem "Werteverfall", sondern mit einer Wertepluralisierung zu tun. Aber auch Wertepluralisierung erzeugt Probleme der Geltung von Normen: Grenzen werden strittiger und Grenzüberschreitungen häufiger.
Die Debatte setzt auf die Verbreitung von proklamierten Werten wie Menschlichkeit und Solidarität. Doch die gesellschaftliche Realität wird von anderen Werten bestimmt, von Werten, die auch besonders belohnt werden: der Verabsolutierung von Selbstdurchsetzung, dem Aufstieg um jeden Preis, dem Erfolg auf Kosten anderer. Dieser Wertefundus ist längst durchgesetzt. Und die Jugendlichen haben die Doppelbödigkeit dieser Wertedebatte längst durchschaut. Die Frage der Zukunft muss deshalb lauten: Woher bekommen junge Menschen, die nicht mithalten können, ihre Anerkennung?
Die strukturellen Ursachen des Kontrollverlusts zur Vermeidung von Amokläufen können nicht aufgehoben werden, weil wir die trigger causes, also die situativen Auslöser, in der Regel nicht kennen. Die einzig sinnvolle Konsequenz ist eine gesellschaftliche Debatte über eine neue Kultur der Anerkennung. Dafür gibt es derzeit keinerlei Anzeichen, das heißt, die Probleme des doppelten Kontrollverlustes werden weiterbestehen.
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