piwik no script img

Jugendheim „Neustart“ in BrandenburgAufnahmestopp und harte Auflagen

Brandenburg erteilt der Einrichtung „Neustart“ zum zweiten Mal harte Auflagen. Aktuelle Bewohner bestätigen einige der Vorwürfe gegen das Personal.

Kein Neustart in Jänschwalde Foto: Wolfgang Borrs

Hamburg taz | Das brandenburgische Jugendministerium hat für das Kinderheim „Neustart“ bei Jänschwalde einen Aufnahmestopp verfügt und zum zweiten Mal in Folge Auflagen erteilt. Es handle sich um Maßnahmen zur „Sicherung des Kindeswohls“, die keine Vorverurteilung bedeuteten. Die taz hatte am 21. September über Vorwürfe berichtet, die fünf ehemalige Bewohner erhoben. Unter anderem waren sie eingangs in ihren Zimmern isoliert, hatten Milchglasfolie an den Fenstern und tagsüber keine Matratze auf dem Bett. Sie berichteten von strengen Frage-Ritualen, abgeschlossen Türen und einzelnen Übergriffen.

Das Heim des Arbeiter-Samariter-Bunds Lübben liegt im Wald bei Jänschwalde und hat rund 30 Plätze für Kinder- und Jugendliche im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren. Aufnahmestopp heißt, dass dort bis zur Klärung der Vorwürfe keine Kinder aufgenommen werden. Auch wird einem Mitarbeiter vorerst der Umgang mit den Kindern untersagt.

Zudem darf das „Chip-System“, mit dem Jugendliche sich bei Wohlverhalten persönliche Freiheiten wie länger telefonieren oder sich schminken dürfen erkaufen mussten, nicht mehr angewendet werden. Derartige Methoden wurden jüngst vom Deutschen Ethikrat kritisiert. Mit sofortiger Wirkung auszusetzen sei auch das „Anklopf-Verfahren für den Gang der untergebrachten Kinder und Jugendlichen zur Toilette“, schreibt das von der SPD-Politikerin Britta Ernst geleitete Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) in Potsdam. Dort liegt seit Montag ein Brief vor, in dem ein Jugendlicher dieses entwürdigende Verfahren detailliert beschreibt. Er musste für einen Toilettengang sechs oder sieben Fragen stellen.

Bereits vor einer Woche hatte das MBJS als Reaktion auf den taz-Artikel mehrere Auflagen erteilt und deren Umsetzung am 25. September mit einem unangekündigten Besuch kontrolliert. So wurde die an den Fenstern angebrachte Milchglasfolie durch Gardinen ersetzt. Ferner schrieb das Ministerium „Die feste Verankerung der Stühle am Boden wurde entfernt“ und die Schränke in den Aufnahmezimmern seien für die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen „inzwischen frei zugänglich und nicht mehr verschlossen.“ Auch seien die Türen nach draußen beim Besuch offen gewesen.

Vorwürfe teilweise bestätigt

Einen Tag später, am 26. September, haben Ministeriumsmitarbeiter zudem noch im Heim lebende Jugendliche ohne die Erzieher befragt. „Teilweise werden Vorwürfe aus dem Pressebericht bestätigt“, schreibt das MBJS.

Eine Frage ist, warum der Heimaufsicht Milchglasfolie und festgeschraubte Stühle nicht schon früher bei Besuchen aufgefallen sind. Die Einrichtung war häufig in der Lokalpresse, unter anderem weil Jugendliche wegliefen und gesucht wurden. Und Mitarbeiter des Landkreises Spree-Neiße, der dieses Heim selber nutzt, waren zuletzt Ende Juni vor Ort.

Im politischen Raum gibt es so kurz nach der Brandenburg-Wahl kaum Reaktionen. Die jugendpolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Dannenberg, sagte auf taz-Nachfrage, sie sei erschüttert. „Ich erwarte rückhaltlose Aufklärung durch das Ministerium. Wie kann so was passieren? Wer hat da versagt?“ Man müsse auch genau recherchieren, inwiefern die nach dem Haasenburg-Skandal eingeführten Kontrollmechanismen versagten, und schauen, wie es in anderen Heimen des Landes läuft. Dannenberg: „Es braucht eine öffentliche und fachliche Debatte über derartige Erziehungsmethoden – die als Schwarze Pädagogik zu bewerten sind.“

In der SPD gibt es noch keine Fachsprecher. Aus der Fraktion war zu vernehmen, dass man die Grundsätze der bestehenden Konzepte in den Kinder- und Jugendeinrichtungen des Landes Brandenburg noch einmal betrachten wolle. SPD-Ministerpräsident Hartmut Woidke hatte „Neustart“ noch im April besucht und die dortige Arbeit gelobt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die SPD muss sich zunehmend fragen lassen, warum sie in Bund und Ländern eine klimafeindliche, unsoziale und rechte Politik verfolgt. Im Bund lässt sie das erfolgreichste Programm gegen den Rechtsextremismus bzw. die deutschen Klimaziele vor die Hunde gehen und in Brandenburg schaut sie auffällig oft bei sadistischen und autoritären Programmen der Steinzeitpädogogik weg. Was ist aus der Sozialdemokratie nur geworden?

  • Da ist der Haasenburg-Skandal noch gut in Erinnerung und nun stellt sich diesbezüglich die Frage ob im vorliegenden Fall (Jugendheim “Neustart“) die “Kontrollmechanismen versagten“. Und wieder einmal wird deutlich: Je geringer die (vermeintliche) Beschwerdemacht des Individuums ist, desto schneller überschreitet Aufsichts- und Betreuungspersonal moralische - und auch rechtliche - Grenzen.