Jürgen Gottschlich über die abgesagte AKP-Kampagne in Deutschland: Möglichst viel herausschlagen
Viele Bundesbürger haben in den vergangenen Wochen einen Recep Tayyip Erdoğan erlebt, wie ihn die Türkinnen und Türken schon lange kennen. „Irrsinn“, „verrückt“, „der Mann ist völlig von Sinnen“ waren die Kommentare, die dazu allenthalben zu hören waren. Doch so emotional der türkische Präsident sich bei seinen Ausfällen gegen den Rest der Welt anhört, nichts davon ist spontan, alles ist kalkuliert. Jetzt also sollen die Auftritte türkischer Minister, gar Erdoğans eigener Auftritt in Deutschland, abgeblasen worden sein.
Verkündet hat diese Entscheidung nicht etwa Erdoğan selbst oder eine hochrangige Figur der Regierung, sondern eine unbekannte Sprecherin der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die bislang die meisten Auftritte in Deutschland und Europa organisiert hat. Damit stellt Erdoğan sicher, dass die Nachricht in der Türkei selbst kaum zur Kenntnis genommen wird. Er lässt den Konflikt, für den er eine jahrzehntelange Annäherungspolitik der Türkei an Europa ohne Skrupel gegen die Wand gefahren hat, einfach fallen.
Dafür dürfte es mehrere Gründe geben. Der wahrscheinlichste ist, dass das Thema ausgereizt ist und ihm die nahezu täglich erhobenen Umfragen signalisiert haben, dass die Fortsetzung der Kampagne ihm mehr schaden als nutzen würde. Die Mehrheit der Türken will keinen völligen Bruch mit Europa, sondern hat im Gegenteil Angst, dass daraus nur Nachteile entstehen könnten. Angefangen von Schwierigkeiten bei Reisen zu Verwandten bis hin zu einem völligen Absturz der türkischen Wirtschaft.
Denn trotz Faschismusvorwürfen und angeblich in Europa herrschender Islamophobie: Erdoğan will vor Beendigung der Beitrittsverhandlungen noch möglichst viel aus der EU herausschlagen. Dahinter steht die Vorstellung, ähnlich wie bei den Brexit-Verhandlungen, für den Verzicht auf eine Vollmitgliedschaft mit der EU noch möglichst viele vorteilhafte Abkommen aushandeln zu können.
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