Jürgen Gottschlich über die Kommunalwahlen in der Türkei: Erdoğans Unfall an den Urnen
Obwohl die seit 16 Jahren regierende AKP bei den Kommunalwahlen in der Türkei gerade erneut landesweit einen Wahlsieg eingefahren hat, droht ihr erstmals in der Amtszeit von Präsident Erdoğan ein Debakel. Denn sie hat nicht nur die Hauptstadt Ankara verloren, sondern nach Stand Montagnachmittag auch die größte Metropole des Landes, Istanbul. Als sich in der Nacht zu Montag die Niederlage in Istanbul abzeichnete, ließ die Regierung die Auszählung der Stimmen auf den letzten Metern zunächst stoppen und erklärte ihren Kandidaten, den vormaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, zum Sieger.
Doch die Wahlkommission widerstand diesem Manipulationsversuch und gab am Montagvormittag bekannt, dass der Kandidat der Opposition, Ekrem İmamoğlu, bei nahezu komplett ausgezählten Urnen aus allen Wahllokalen, hauchdünn in Führung liegt. Sollte es dabei bleiben, wäre es eine schwere Niederlage für die AKP und vor allem für den Präsidenten und Chef der AKP, Recep Tayyip Erdoğan.
Dessen Aufstieg begann 1994, als er überraschend mit ebenfalls hauchdünnem Vorsprung Oberbürgermeister in Istanbul wurde. Eine Niederlage hier könnte der Beginn seines Niedergangs sein.
Erdoğan hat selbst immer behauptet, wer Istanbul kontrolliert, regiert die Türkei. Er ist groß geworden mit dem Versprechen wachsenden Wohlstandes für seine Wähler. Nicht zuletzt die Wirtschaftskrise hat deshalb dazu geführt, dass die AKP nun die Metropolen wieder verliert. Um dennoch einen Verlust Istanbuls, ihrer wichtigsten Machtbasis, zu verhindern, ist die Partei bereits dabei, den Unfall an den Urnen in ihrem Sinne wieder zu beheben. Ihr Kandidat hat diverse Einsprüche angekündigt, der Druck von Präsident und Regierung auf die Zentrale Wahlkommission ist enorm. Die nächsten Tage werden zeigen, ob es in der Türkei noch einen Rest demokratischer Gesinnung gibt oder ob Erdoğan einen Wahlsieg der Opposition einfach kassieren kann. Europa und Deutschland sollten sehr genau darauf schauen, was in Istanbul passiert.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen