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Jürgen Gottschlich über die Aufhebung türkischer „Terror-Urteile“Sieg für den Rechtsstaat

Es ist, als wäre ein Fenster geöffnet und die Gesellschaft wieder mit frischer Luft versorgt. So jedenfalls kommentierte einer der beteiligten Anwälte das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zur Aufhebung der „Terrorpropaganda-Urteile“ für die Unterzeichner einer Friedenspetition. Aufrufe zum Frieden sind also kein Verbrechen, sondern legitime Meinungsäußerungen, auch für Akademiker an staatlichen Universitäten.

Was sich so selbstverständlich anhört, war in der Türkei jahrelang verboten. Mehr als tausend Wissenschaftler wurden gefeuert und der Rest hielt aus Angst den Mund, denn Kritik an der Regierung und dem Präsidenten war eben „Terror-Propaganda“. Mit seinem Urteil vom Freitag hat das Verfassungsgericht jetzt eine kleine Lücke in die Mauer des Schweigens geschlagen, die in der Türkei spätestens nach dem Putschversuch im Juli vor drei Jahren errichtet worden war.

Auch in anderen Fällen gibt es erste Anzeichen, dass die Gerichte, und dabei vor allem das Verfassungsgericht, langsam, aber sicher den Horror der letzten Jahre wieder etwas korrigieren. So wurden Journalisten aus der U-Haft entlassen – auch die U-Haft für den Journalisten der deutschen Zeitung Die Welt, Deniz Yücel, wurde ja vom Verfassungsgericht im Nachhinein für illegal erklärt – und auch in anderen Fällen wurden zaghafte Signale einer Rückkehr des Rechtsstaates gesendet.

Zusammen mit den deutlichen Wahlerfolgen der Opposition in Istanbul, Ankara und anderen Städten bei den Kommunalwahlen im Frühjahr sind das Anzeichen für eine Trendwende, aber eben noch nicht mehr. Viele Regierungskritiker sitzen noch im Gefängnis oder sind mit skandalösen Anklagen konfrontiert.

Das autokratische Regime von Präsident Erdoğan bleibt erst einmal in Kraft, aber es gibt zumindest die Hoffnung, dass es nicht mehr ewig währt. Die Angst, die die Opposition und die Zivilgesellschaft so lange gelähmt hat, weicht einem neuen Mut. Das Urteil zur Meinungsfreiheit für Akademiker ist ein wichtiger Baustein zur Unterstützung dieses Trends.

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