Jürgen Gottschlich über Erdoğans Politik mit deutschen Gefangenen: Milde und Gesichtswahrung
Peter Steudtner ist wieder in Berlin und die Bundesregierung ist erleichtert. Deutet sich mit der Freilassung des in Istanbul inhaftierten deutschen Menschenrechtlers eine Änderung der Politik Erdoğans gegenüber Deutschland an? Sucht der türkische Staatspräsident vielleicht sogar wieder eine Annäherung an die EU?
Zunächst ist die Freilassung von Steudtner und den übrigen Menschenrechtsaktivisten ein singuläres Ereignis, das über die Situation der übrigen deutschen Gefangenen wenig aussagt. Der Staatsanwalt und das Gericht haben sich nicht etwa plötzlich wieder rechtsstaatlicher Prinzipien erinnert, sie sind schlicht einem Wink von oben gefolgt.
Die Verhaftungen von Journalisten und anderen gehen derweil unvermindert weiter, der Ausnahmezustand ist gerade wieder für weitere drei Monate verlängert worden. Von einer Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien kann keine Rede sein.
Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Erdoğan seine Konfrontationspolitik gegenüber Deutschland und der EU abmildert. Dafür gäbe es zwei Gründe. Erstens rutscht die türkische Wirtschaft immer weiter in die Krise, die Lira hat deutlich an Wert verloren. Erdoğan braucht Geld aus dem Westen und Investitionen aus der EU, um die von der türkische Wirtschaft dringend benötigten Importe bezahlen zu können. Die Wirtschaftsverbände weisen immer deutlicher darauf hin. Zweitens kann sich Erdoğan, seit er auch mit den USA über Kreuz liegt, die Verweigerungshaltung gegenüber der EU und Deutschland nicht mehr leisten.
Ein Weg aus der Sackgasse könnte die im November bevorstehende Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg über die Verhältnismäßigkeit der U-Haft für Deniz Yücel sein. Fordert das europäische Gericht die Entlassung, kann Erdoğan entweder die Konfrontation eskalieren oder aber den Spruch als goldene Brücke nutzen, um gesichtswahrend aus der Geiselnahme von Yücel hinauszukommen. Möglich ist beides.
türkei
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