Jüdischer Schriftsteller Jean Améry: Schicksalsirrtum Überleben
Als KZ-Überlebender litt Jean Améry unter dem Dilemma des "Übriggebliebenen", 1978 beging er Selbstmord. Mit Band 9 ist jetzt die Werkausgabe komplett.
"Grass ist in meinen Augen ein großer Schriftsteller, wahrscheinlich, neben Uwe Johnson, den ich auch sehr hoch schätze, der größte, den Deutschland hat", sagte der Publizist Jean Améry in einem ausführlichen Interview vom 20. Juli 1978. Es ist jetzt wieder in den als Band 9 der Améry-Werkausgabe erschienenen und von der Brüsseler Literaturwissenschaftlerin Irene Heidelberger-Leonard herausgegebenen "Materialien" nachzulesen. Sie bilden einen würdigen Abschluss der im Verlag Klett-Cotta erschienenen Werkausgabe. Neben einer Bibliografie von Gudrun Bernhardt enthält der Band "Daten zur Biografie" sowie eine Best-of zeitgenössischer Buchrezensionen. Außerdem abgedruckt sind darin berühmt gewordene Améry-Porträts, Nachrufe auf den Schriftsteller und Aufsätze über Améry, aus der Feder von Imre Kertész, Primo Levi, W. G. Sebald, Helmut Heißenbüttel und Jan Philipp Reemtsma.
Dass Günter Grass als junger Mann in der Waffen-SS gekämpft hatte, konnte der jüdische Schriftsteller Améry, der unter anderem die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebte, damals nicht wissen. Auch das macht die eingangs zitierte Passage aus dem Gespräch zwischen Ingo Herrmann und Améry zu einem Dokument von tiefer Abgründigkeit. In jeder Zeile ist Amérys tiefes Misstrauen gegenüber den intellektuellen und politischen Vorgängen in Deutschland zu spüren. Der 1912 in Wien als Hans Maier geborene und in Vorarlberg aufgewachsene Améry wurde 1943 in Belgien wegen Widerstandsaktivitäten von der SS gefoltert. In Deutschland machte er noch in den Siebzigerjahren überdeutliche "Relikte des Nationalsozialismus" aus.
Dem Interview ist anzumerken, wie sehr sich Améry jede einzelne wohlwollende Bemerkung über die Bundesrepublik abringen muss. Er verwirft und kritisiert rückblickend die Revolte von 1968, der er zunächst wohlwollend gegenübergestanden hatte. Zehn Jahre nach den Unruhen distanziert sich Améry ausdrücklich von der Studentenbewegung. Bei einem Vortrag hatten Studenten Améry des "Positivismus" bezichtigt, ohne freilich zu wissen, was darunter zu verstehen sei: "Da kam raus, sie hatten keine Ahnung, was das überhaupt ist, philosophiegeschichtlich. Sie wußten gar nichts vom Positivismus, nichts vom älteren, nichts vom neuen. Positivismus war irgendetwas Böses", so Améry.
Das ausführliche Gespräch mit Améry ist auch deshalb bemerkenswert, weil es den Charakter eines endgültigen Abschieds hat. Wenige Monate später vergiftete sich der Schriftsteller mit einer Überdosis Schlaftabletten. In einem seiner letzten Briefe zitierte er am 5. 10. 1978 einen Vers von Hans Magnus Enzensberger: "Was habe ich verloren in diesem Lande?" Améry hatte sich zwar nach dem Krieg dafür entschieden, weiterhin auf Deutsch zu schreiben, publizierte lange Zeit aber nur in der Schweiz. Erst Ende der Sechziger begann er in Deutschland zu veröffentlichen - zuerst essayistische, später auch literarische Texte. Die zeitgenössische Literaturkritik biss sich anlässlich von Amérys letzten Romanen "Lefeu oder Der Abbruch" (1974) und "Charles Bovary, Landarzt" (1978) besonders an dessen epigonalen Anleihen bei kanonisierten Autoren wie Thomas Mann fest. Dass Amérys späte literarische Gehversuche gnadenlos verrissen worden waren und sein Traum, doch noch als Schriftsteller anerkannt zu werden, nicht erfüllt wurde, wird besonders seit Heidelberger-Leonards Améry-Biografie (2004) als lange vernachlässigter Grund für seinen Freitod angeführt. Es gibt aber auch einen anderen Grund dafür, nämlich das, was ihm unter der Folter und in den Konzentrationslagern angetan wurde. "Man fühlte sich völlig überflüssig. Nein, das ist keine Koketterie. Man hatte einfach das Gefühl, es sei ein Schicksalsirrtum, daß man noch am Leben sei. Das muß man sich konkret vorstellen: Ich bin über Berge von Leichen, Berge von Kadavern gestiegen und dachte, wozu bist du eigentlich noch am Leben?", berichtet Améry über seine Situation nach der Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen.
Amérys Enttäuschung, im Land seiner Verfolger auch nach dem Krieg nicht als Schriftsteller wahrgenommen worden zu sein, ist von dieser Geschichte wiederum nicht zu trennen. Amérys Schreiben war wohl der über Jahrzehnte durchgehaltene (und sein ständiges Scheitern stets mit reflektierende) Versuch, dem überwältigenden Gefühl vollkommener Sinnlosigkeit nach Auschwitz irgendetwas Bleibendes entgegenzusetzen. Auch wenn der Autor genau diese Intention in seinem zitierten Interview weit von sich weist. Viel stärker, als die zeitgenössische Kritik es wahrgenommen hat, muss man Amérys Gesamtwerk dennoch als Literatur eines KZ-Überlebenden lesen.
Wolfram Schüttes Verteidigung des "Lefeu"-Romans, die 1974 in der Frankfurter Rundschau erschien und im vorliegenden Band abgedruckt ist, setzt sich schon mit der Wahl eines Améry-Zitats von den anderen Rezensionen des gleichen Buchs ab. Schütte weist auf das Dilemma des "Übriggebliebenen" hin, der den KZs "unvorhergesehenerweise" entrann: "Es gab seither keine Jasage mehr: das Reich des Todes hatte sich aufgetan in der Welt. Man überlebt nicht. Nur Lemuren waren aus dieser Nacht aufgestiegen."
Auffallend dagegen ist die schrille Unangemessenheit so mancher Formulierung aus den Rezensionen über Amérys Werke aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, die im Buch ebenfalls dokumentiert sind. Bei ihrer Lektüre wird dem heutigen Leser klarer, in welcher ignoranten Zeit Améry Texte veröffentlichte, wie seinen autobiografischen Leidensbericht "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966), in dem er seine Folterung durch die SS vergegenwärtigt. Die deutsche Auseinandersetzung mit der Schoah hatte mit dem Auschwitz-Prozess von 1963 erst zaghaft eingesetzt und war deshalb noch lange nicht bei allen Literaturkritikern angekommen. So bemüht Horst Krüger 1966 in der Zeit die geschichtsklitternde Formel von der "Erniedrigung des Hitlerfaschismus", durch die Améry gegangen sei. Als wäre der Nationalsozialismus allein durch Hitler zur Wirkung gekommen und als könne man ihn einfach mit dem italienischen Faschismus vergleichen, der den Antisemitismus der Deutschen gar nicht kannte.
Améry selbst weist einen solchen unhistorischen Vergleich bereits in dem Interview von 1978 ausdrücklich zurück.
Karl Korn erwähnt 1968 in der FAZ beiläufig, Améry sei "ein Mann mit einem schweren Lebensschicksal - er ist in Belgien 1944/45 durch Zufall der Liquidation entgangen". Nicht nur, dass die Datierung falsch war: Die Folterung und die darauf folgende jahrelange Odyssee durch deutsche KZs und Vernichtungslager schrumpft in der unscheinbaren Bemerkung zu einem dubiosen Ereignis, das uninformierte Leser auch als Folge einer Verurteilung für ein hier verschwiegenes Vergehen auffassen konnten. Selbst wohlwollende Stimmen wie die von Alfred Andersch aus einem Essay von 1977 sagen oft mehr über ihre Verfasser aus als über Améry. Andersch kann auch in seiner Würdigung Amérys nicht anders, als den Gelobten als personifizierte Waffe zu imaginieren. Auch wenn er ahnt, wie unpassend der Adressat das finden könnte: "Glatt durchschlägt das Geschoß den Panzer der Systeme. Améry, der sich kaum im Bilde eines Panzerschützen wird erkennen wollen, hat dennoch etwas von David mit der Schleuder." Die Obsession, selbst Projektil zu werden, stammt von Ernst Jünger.
Amérys Befremden über eine solche öffentliche Ehrung dürfte groß gewesen sein. Man lese dazu nur seinen Brief an Andersch, den er bereits 1973 schrieb und der im vorletzten Band der Améry-Werkausgabe, den Gerhard Scheit herausgegeben hat, zu finden ist. Hier versucht Améry dem Schriftstellerkollegen über Seiten geradezu händeringend zu erklären, warum es ihn "verzagt und ratlos" gemacht habe, dass Andersch in der Frankfurter Rundschau soeben eine Rede über Jünger publiziert hatte, in der der Laudator dem Verfasser der "Stahlgewitter" allen Ernstes "Mut" zubilligte: "Ich habe keinerlei Verständnis, lieber Freund", protestiert Améry in Anspielung auf Jüngers Einsatz im Zweiten Weltkrieg, "für Leute, die durch Paris flanierten, während man uns andere, echte Widerständler und Juden [?] in Viehwaggons ersticken ließ, was vergleichsweise noch gnädig war."
Ganz andere Qualität hat in der vorliegenden Materialien-Auswahl Henryk M. Broders Artikel über Amérys Kritik des linken Antizionismus, der 1993 in der taz erschien. Man sollte diesen Text jedem jungen Menschen, den man heute noch mit einem "Palituch" um den Hals antrifft, freundlich in die Hand drücken. Broder fasst hier auf seine pointierte Art die wesentlichen Essays Amérys über den Antisemitismus in der deutschen Linken zusammen. Zentral ist dabei ein - heute mehr denn je gültiger - Satz Amérys von 1973: "Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, daß er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewußt auf dieses Über-Auschwitz hin."
Jetzt, da das iranische Regime Mahmud Ahmadinedschads den Staat Israel offen mit dem möglichen Bau einer Atombombe bedroht, ist es besonders dieser politische Werkkomplex Amérys, der 30 Jahre nach dem Freitod des Autors wieder dringende Beachtung verdient: "Aus dem Anti-Zionismus erwächst die Giftblüte des Antisemitismus. Die pro-arabische Stimmungsmache hat den Konsensus: von der äußersten Linken über die bürgerliche Mitte bis zu den alten Nazis", stellt Améry im April 1975 in einem Schreiben an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke fest. Man möchte der nunmehr vollendeten Werkausgabe wünschen, dass ihre Leser diese Wahrheit zur Kenntnis nähmen. Damit wäre der Grundstein zu einer differenzierteren Rezeption eines der streitbarsten Publizisten des 20. Jahrhunderts gelegt.
Jean Améry: "Materialien. Werke, Band 9". Herausgegeben von Irene Heidelberger Leonhard. Mit einer Bibliografie und einem Register von Gudrun Bernhardt. Klett-Cotta, Stuttgart 2008. 900 Seiten, 40 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!