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Judith Butler doziert an der Uni KölnSie ist ein Popstar

Warum erscheinen einige Leben betrauerbar und andere nicht? Eine Tabu-Frage – Judith Butler stellte sie während ihrer Kölner Gastdozentur dennoch.

Macht hier kein „Funny Face“, geklascht wurde bestimmt trotzdem Foto: imago/ZUMA Press

KÖLN taz | Judith Butler ist ein Popstar. Kommt sie in den Hörsaal, wird gejubelt. Macht sie ein Funny Face, wird geklatscht. Stockt ihr Deutsch und sie muss ein Wort auf Englisch sagen, lachen alle freundlich. „Akademischer Ausnahmezustand“ nennt das der Philosophiehistoriker Andreas Speer. Er richtet die Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln aus, die dieses Jahr mit Judith Butler besetzt wird.

Zwei Vorlesungen hat die in Berkeley lehrende Professorin für Rhetorik diese Woche dort gehalten, beide Male war die Aula der Universität mit 850 Menschen voll besetzt. Butler widmete sich dabei zwei Themen, die seit der Jahrtausendwende ihr Werk durchziehen: die Verletzlichkeit menschlicher Subjekte und die Frage, warum manche Leben als betrauerbar erscheinen und andere nicht.

Aus Letzterem leitet sie eine Ethik der Gewaltlosigkeit ab, die sie am Montagabend ausführte. Ob ein Leben als betrauerbar angesehen wird oder nicht, ist für Butler ein rassistischer Diskurs. Mittelmeerflüchtlinge und der Afroamerikaner Eric Garner, der 2014 im Würgegriff eines New Yorker Polizeibeamten auf offener Straße starb, haben gemeinsam, dass sie durch ein „historisch-rassisches“ Schema beschrieben werden, das von weißen Männern formuliert wird, ein Gedanke, den sich Butler von dem antikolonialen Psychiater Frantz Fanon entlehnt.

Um aber sicherzustellen, dass auch diese Leben als betrauerbar gelten, fordert Butler, dass Gewaltlosigkeit zur Norm wird. Als Ausnahme lässt sie lediglich die Selbstverteidigung zu, etwa in feministischen Kontexten. Die Selbstverteidigung von Nationen oder Familienmitgliedern würde sie dagegen lieber durch eine „kritische Geduld“ ersetzen. Es ist eine der typischen Denkfiguren, die Butler in Köln präsentierte. Sie zeichnet einen begrifflichen Rahmen, über deren konkreten Inhalt sich dann andere ihre Gedanken machen müssen. So wird Butlers Denken zu einer Projektionsfläche, die schließlich tagespolitisch immer wieder gefüllt werden kann.

Trump entdeckt sein Herz für LGBTI

Eine Zuhörerin will von ihr wissen, ob die LGBT-Opfer von Orlando auch „nichtbetrauerbare Leben“ waren, weil das homophobe Motiv des Täters in der Formulierung „ein Angriff auf die offene Gesellschaft“ negiert werde. Eine andere Stimme aus dem Publikum sieht gerade in dieser Formulierung den Einschluss der toten LGBTI (lesbian-gay-bi-trans-intersexual) in die Form des „betrauernswerten Lebens“. Und Butler selbst erinnert daran, dass LGBTI in den USA gerade selbst diskutieren, wer ihr Verbündeter ist und wer nicht.

Aber Donald Trump, der nach dem Amoklauf von Orlando sein Herz für LGBTI-Verbündete entdeckte, sei dann doch nur ein Homonationalist. Er erkenne zwar an, dass LGBTI die Opfer im Pulse-Nachtclub waren, aber verschweige, dass viele von ihnen zur Minderheit der Latinos gehört haben – Jubel auf den Rängen.

Butler teilt aus und das kommt an. In ihrem Vortrag ist wenig von dem Ringen um Ausgewogenheit zu spüren, das deutsche Akademiker ausmacht. Bei ihrer zweiten Vorlesung am Mittwoch waren weiße Kalifornier das Ziel ihres Spotts. Sie fühlten sich bedroht, weil Latinos die Bevölkerungsmehrheit in diesem US-Bundesstaat stellen.

Zuvor hatte Butler Verletzlichkeit als eine zentrale Kategorie herausgearbeitet, die in Kämpfen gegen Austerität ebenso zum Ausdruck kommen wie in Kämpfen für sexuelle Selbstbestimmung. Butler grenzt diese Verletzlichkeit vom Streben nach totaler Autonomie ab, dass ein maskulistisches, antifeministisches Denken kennzeichne. Verletzlichkeit beinhalte dagegen die Einsicht in die eigene Abhängigkeit von anderen Menschen.

So schlägt Butler den Bogen von klassischen feministischen Diskursen um reproduktive Arbeit hin zu aktuellen politischen Konflikten wie etwa dem Widerstand gegen Zwangsräumungen in Spanien. Wo Verletzlichkeit mobilisiert werde, da sei Widerstand, schließt Butler und wird erneut nach einem tagespolitischen Ereignis gefragt. Eine junge Frau will wissen, ob es ein Akt des Widerstands sei, wenn Frauen nachts auf die Straße gehen, weil sie dann verletzlich seien. „In Köln? Yes!“ antwortet die Professorin. Verabschiedet wird sie mit minutenlangem Jubel.

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9 Kommentare

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  • "Judith Butler ist ein Popstar" -... tja warum nicht ?! Ist doch alles Denken auf den Pop gekommen , auf "Anything goes !" , oder wie ?

    Butlers philosophisch-wissenschaftlich verbrämtes Wunschdenken , hoch über den Wolken der großpolitisch bedingten realen Gewalt im Großen , findet als schräges Angebot offenbar ein dankbares Publikum, weil es den Bedürfnissen einer Klientel nach Nicht-Denken , Heile-Welt im Wolkenkuckucksheim entgegenkommt : eine "Ethik der Gewaltlosigkeit" . Oder auch : Mit Butler über das Wasser gehen .

  • Weiße Männer? Das ist ein rasssistischer Deutungsrahmen, was nicht bedeutet, dass er unberechtigt ist. Man muss es nur reflektieren.

     

    Ich glaube die Begrifflichkeiten sind für Realpolitik ungeeignet. Judith Butler redet von Gewaltlosigkeit aber entwickelt neue Feindbilder, wo die alten nicht mehr überzeugen. Feindfreie Kommunikation wäre wichtiger als gewaltlose.

  • Philosophen sind Künstler der Einfachheit. Das sieht man schon am Zahlenkosmos der Philosophen: [1] Monismus, [2] Dualismus, [3] Dialektik, [4] Geviert; ich bevorzuge des Geviert vor 45.

     

    Der Philosoph entwirft den Globus des Denkens. ἐπίσταμαι, das „Wissen“, klärt, es bringt die Theorie zum Vorschein, entgegen der Techne, dem praktischen Wissen. Die Philosophie als erste Wissenschaft kann nicht beim Ausmalen der Landkarte beginnen.

     

    Dabei gilt es, die Differänz von Mythos und Logos in seiner ganzen Gefährlichkeit und Tragweite zu beachten. Sie sind keine Topoi. Das hieße, den Karren vor das Pferd zu spannen. Der Mythos ist unhintergehbar. Das Aussetzen des Mythos, seine Inter-ruption ist nur der [Wieder]Beginn des Mythos. „Die Nacht ist also eine Sonne.“ Mythos und Logos aber brauchen einen Ort, der ortlos ist. Der Begriff der Mutter/Chōra könnte diesen ortlosen Ort begründen, an dem Mythos (Vorhandenheit, Gegebenheit, Vergangenheit) und Logos (Zuhandenheit, Möglichkeit, Zukunft) sich versöhnen, wieder begegnen könnten. Das Schließen des Mythos eröffnet einen neuen Mythos. Die Zeit aber ist eine Funktion des Raumes, in dem wir leben und der durch die Öffnung lebt, ins Freie hinein.

     

    Die Mutter/Chōra ist präzise Topos und Atopos zugleich. Es ist der Raum, in dem sich alles ereignet. Gewaltlosigkeit, Trauer sind Grundbedingungen. Gewaltlosigkeit ist die Herrschaft[Herrschaftslosigkeit] der Reproduktion über die Gewalttätigkeit[Herrschaft] der Replikation. Wir geben die Erde als Erde selbst preis, sollte die Replikation Oberhand gewinnen.

     

    Die Trauer aber ist der erste Ort der Ästhetik, αἴσθησις aísthēsis „Wahrnehmung“, „Empfindung“.

     

    „Nach dem Tod gibt es diese Kontinuität des Lebens nicht mehr, aber dann gibt es einen Sinn. Entweder unsterblich sein und ohne Ausdruck oder sich ausdrücken und sterben.“

     

    Ohne Trauer keine Ästhetik.

     

    Die Zeiten ändern sich, und wir, mit ihr, in ihr. Das Denken muss immer wieder neu ansetzen.

  • Butler liefert vor allem Versatzstücke, aus denen sich unsere urbane Empörungskultur ihre Slogans generiert.

     

    Gibt es eigentlich schon Hörbücher mit Butlers beliebetesten Zitierthesen?

  • Ist aus dem Kontext gerissen, klar, aber so wie Butlers Thesen hier dargestellt werden, reißen sie mich mal gar nicht vom Stuhl.

     

    Ne Ethik der Gewaltlosigkeit, ok, is nu echt nix Neues. Im zivilen Bereich zudem gesetzlich festgeschriebene Norm, wohl annähernd überall.

    Und zwischen Staaten und bei sonstigen militärischen Konflikten? Krieg ist immer furchtbar, aber es gibt eben Leute & Gruppen, die „kritische Geduld“ weder beindruckt noch von irgendwelchen Schandtaten abhält. Auch ein sehr alter Hut.

     

    „Verletzlichkeit“, schön und gut, klingt für mich nach so Gandhis Ansatz. Was aber, wenn die Machthaber von Erdöl oder dergl. leben und sich einen Dreck darum scheren, wenn die Bevölkerung krepiert, weil sie die nämlich gar nicht brauchen? Oder wenn eine, wie auch immer geartete, Minderheit ihre Rechte einfordert, sie von der Mehrheit aber so oder so verabscheut wird?

     

    Nene, das Konzept hat seine Grenzen. Dem größten aller sozialen Übel, der weltweit wachsenden materiellen Ungleichheit, kommt man damit bestimmt nicht bei.

    • @Ruhig Blut:

      Philosophen sollen "Antworten auf grundlegende Fragen über die Welt und über das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt zu finden", weiß das Lexikon. Dabei dürfen sie sich nicht all zu sehr beeindrucken lassen vom aktuellen, konfliktbeladenen Alltag. Sie können ihren Job sonst nicht erledigen.

       

      Unser Alltag ist eine Folge der Tatsache, dass das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt (andere Menschen eingeschlossen) noch längst nicht so ist, wie es eigentlich sein sollte. Hier kommt die Philosophie ins Spiel.

       

      Philosoph*innen werden bezahlt dafür, dass sie weiter denken als bis vor ihre Schuhspitzen. Von einem Ingenieur erwarten wir ja auch nicht, dass er Apparate erfindet, die es schon gibt. Und Mediziner sollen Krankheiten bekämpfen, gegen die die Menschheit bislang machtlos ist. Das nennt man Fortschritt. Schon mal was davon gehört?

       

      Die Gewalt hatte 500.000 Jahre Zeit, die Fragen der Menschen positiv zu beantworten. Sie hat es bisher nicht geschafft. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt verschiebt Probleme in die Zukunft und vergrößert sie dabei. Nachhaltig, wie man heute sagt, geht anders. Aber Nachhaltigkeit ist mittlerweile state oft the art – Stand der Technik also. Ich finde, es ist an der Zeit, was andres zu versuchen als Gewalt.

       

      Nein, die Welt wird nicht von heute auf morgen zu einem Paradies, wenn die Butlers Idee erst einmal Raum gegriffen hat. Altlasten verschwinden nicht so einfach, wenn man es sich ganz doll wünscht. Es hat mehrere tausend Jahre gedauert, bevor sich jene Standards durchgesetzt haben, von denen wir alle heute profizieren. Es wird weitere Jahrtausende dauern, bis die Gewalt, wie wir sie heute kennen, Geschichte ist. Philosophie hat Grenzen, vor allem zeitliche.

       

      Nur: Wenn wir jetzt nicht anfangen umzusteuern, werden wir die zehntausend Jahre, die wir brauchen, nicht mehr kriegen. Dann stirbt die Menschheit vorher aus. Das Arsenal hat sie bereits. Wird also Zeit, dass wir die Kurve kriegen.

      • @mowgli:

        Butler mischt kräftig mit bei den Diskussionen über die Probleme des „aktuellen, konfliktbeladenen Alltags“ und betrachtet das sicherlich als Teil ihres „Jobs“. Genau deshalb ist sie so populär wie umstritten.

        Die größere Linie, die sie hier (und nur hier, wohlgemerkt!) mglw. andenkt, ist aber, wie gesagt, nach meinem Eindruck nicht gerade ne heiße Neuigkeit und zudem nicht nur große Linie sondern auch recht konkret.

         

        Die Welt gewaltfrei besser machen und die Menschheit en gros zur Gewaltfreiheit erziehen? Ja hervorragend, möchte ich bestimmt nicht widersprechen.