Judith Butler doziert an der Uni Köln: Sie ist ein Popstar
Warum erscheinen einige Leben betrauerbar und andere nicht? Eine Tabu-Frage – Judith Butler stellte sie während ihrer Kölner Gastdozentur dennoch.
Zwei Vorlesungen hat die in Berkeley lehrende Professorin für Rhetorik diese Woche dort gehalten, beide Male war die Aula der Universität mit 850 Menschen voll besetzt. Butler widmete sich dabei zwei Themen, die seit der Jahrtausendwende ihr Werk durchziehen: die Verletzlichkeit menschlicher Subjekte und die Frage, warum manche Leben als betrauerbar erscheinen und andere nicht.
Aus Letzterem leitet sie eine Ethik der Gewaltlosigkeit ab, die sie am Montagabend ausführte. Ob ein Leben als betrauerbar angesehen wird oder nicht, ist für Butler ein rassistischer Diskurs. Mittelmeerflüchtlinge und der Afroamerikaner Eric Garner, der 2014 im Würgegriff eines New Yorker Polizeibeamten auf offener Straße starb, haben gemeinsam, dass sie durch ein „historisch-rassisches“ Schema beschrieben werden, das von weißen Männern formuliert wird, ein Gedanke, den sich Butler von dem antikolonialen Psychiater Frantz Fanon entlehnt.
Um aber sicherzustellen, dass auch diese Leben als betrauerbar gelten, fordert Butler, dass Gewaltlosigkeit zur Norm wird. Als Ausnahme lässt sie lediglich die Selbstverteidigung zu, etwa in feministischen Kontexten. Die Selbstverteidigung von Nationen oder Familienmitgliedern würde sie dagegen lieber durch eine „kritische Geduld“ ersetzen. Es ist eine der typischen Denkfiguren, die Butler in Köln präsentierte. Sie zeichnet einen begrifflichen Rahmen, über deren konkreten Inhalt sich dann andere ihre Gedanken machen müssen. So wird Butlers Denken zu einer Projektionsfläche, die schließlich tagespolitisch immer wieder gefüllt werden kann.
Trump entdeckt sein Herz für LGBTI
Eine Zuhörerin will von ihr wissen, ob die LGBT-Opfer von Orlando auch „nichtbetrauerbare Leben“ waren, weil das homophobe Motiv des Täters in der Formulierung „ein Angriff auf die offene Gesellschaft“ negiert werde. Eine andere Stimme aus dem Publikum sieht gerade in dieser Formulierung den Einschluss der toten LGBTI (lesbian-gay-bi-trans-intersexual) in die Form des „betrauernswerten Lebens“. Und Butler selbst erinnert daran, dass LGBTI in den USA gerade selbst diskutieren, wer ihr Verbündeter ist und wer nicht.
Aber Donald Trump, der nach dem Amoklauf von Orlando sein Herz für LGBTI-Verbündete entdeckte, sei dann doch nur ein Homonationalist. Er erkenne zwar an, dass LGBTI die Opfer im Pulse-Nachtclub waren, aber verschweige, dass viele von ihnen zur Minderheit der Latinos gehört haben – Jubel auf den Rängen.
Butler teilt aus und das kommt an. In ihrem Vortrag ist wenig von dem Ringen um Ausgewogenheit zu spüren, das deutsche Akademiker ausmacht. Bei ihrer zweiten Vorlesung am Mittwoch waren weiße Kalifornier das Ziel ihres Spotts. Sie fühlten sich bedroht, weil Latinos die Bevölkerungsmehrheit in diesem US-Bundesstaat stellen.
Zuvor hatte Butler Verletzlichkeit als eine zentrale Kategorie herausgearbeitet, die in Kämpfen gegen Austerität ebenso zum Ausdruck kommen wie in Kämpfen für sexuelle Selbstbestimmung. Butler grenzt diese Verletzlichkeit vom Streben nach totaler Autonomie ab, dass ein maskulistisches, antifeministisches Denken kennzeichne. Verletzlichkeit beinhalte dagegen die Einsicht in die eigene Abhängigkeit von anderen Menschen.
So schlägt Butler den Bogen von klassischen feministischen Diskursen um reproduktive Arbeit hin zu aktuellen politischen Konflikten wie etwa dem Widerstand gegen Zwangsräumungen in Spanien. Wo Verletzlichkeit mobilisiert werde, da sei Widerstand, schließt Butler und wird erneut nach einem tagespolitischen Ereignis gefragt. Eine junge Frau will wissen, ob es ein Akt des Widerstands sei, wenn Frauen nachts auf die Straße gehen, weil sie dann verletzlich seien. „In Köln? Yes!“ antwortet die Professorin. Verabschiedet wird sie mit minutenlangem Jubel.
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