Journalismus in Corona-Zeiten: Die neuen Betroffenen
Plötzlich nehmen deutsche Journalist*innen die Perspektive von Betroffenen ein. Beim Thema Rassismus ist sie verpönt.
W enn man Texte über Migration oder Rassismus schreibt, sagen Deutsche ohne Migrationshintergrund gerne mal zu „betroffenen“! Autor*innen: Ihr seid Betroffene, das merkt man euren Texten (leider) an. Werdet erst mal die Wut los, lauft um den Block, es hat noch keiner wütend einen guten Text geschrieben. Sachlich, sachlich. Unaufgeregt! Selbst nach Hanau, nach den Morden an Unschuldigen, kommen Leute auf die Idee, zu sagen: Warte lieber kurz, lass etwas Zeit vergehen, nicht dass du zu emotional schreibst, wäre doch schöner mit ein bisschen Luft, so ein unaufgeregter Text über das alles.
Ich weiß in einem solchen Moment: uns trennen Welten. Es ist nicht „ein Thema“ für mich. Es ist ein Erinnerungsgewebe, zahllose Momente in diesem Land, in denen Einwanderer und ihre Nachfahren zu spüren bekommen haben: Der migrantische Körper steht leicht zur Disposition. Selbst ein rassistisches Töten wie in Hanau kann in kürzester Zeit vergessen werden. Wir haben ja jetzt Covid-19, die unser aller Körper bedroht. Das macht ja alle wieder gleich, oder nicht?
Vor Hanau stieß mir diese Haltung selten auf. Ich dachte: Ja, warum sollte sich gerade meine Wut in irgendeine Textform ergießen dürfen? Ich habe diese Überheblichkeit, die man auch als „silencing“ bezeichnen könnte, unaufgeregt geschluckt und gedacht: Vielleicht machen die Deutschen ohne Migrationsgeschichte das wirklich kühler und besonnener. Sie werden, warum auch immer, den besseren Text schreiben. Sie werden ihn mit Fakten anreichern, ihre Meinungen besonnen belegen, sie sind ja meist gutmeinende Linke – daher so nah am Betroffensein, wie es nur geht und trotzdem distanziert genug, um objektiv zu schreiben. Was habe ich, außer meiner Fassungslosigkeit über gesellschaftlich akzeptierten Rassismus, der sich in Morden niederzuschlagen weiß in diesem Land?
Doch jetzt, in Zeiten von Corona, sehe ich, wie deutsche Journalist*innen ohne Migrationshintergrund permanent ihre alltäglichen Situationen und Erfahrungen zum Thema machen: Ihr Homeoffice, ihre Beziehung, ihre Kinder, ihre Überforderung wird zur Grundlage der Kritik an den familienpolitischen Maßnahmen der Regierung. Care-Arbeit meint plötzlich nicht mehr den sachlichen Artikel, bei dem ein paar Betroffene und Expert*innen zum Thema Sorgearbeit angehört werden, nein! Man sitzt selbst in der Wohnung und erlebt die Situation, über die man schreibt, tagtäglich.
ist Autorin und Kolumnistin. Bei S. Fischer erschien soeben ihr Buch SHEROES – Neue Held*innen braucht das Land. Sie twittert zum Zeitgeschehen unter @jagodamarinic.
Die Artikel zum Thema häufen sich, aus dem Makel Betroffenheit wird Glaubwürdigkeit: Sie wissen, wovon sie reden! Ich sehe, wie die Wut der Corona-Eltern, vor allem der Mütter, sich steigert und plötzlich selbst die besonnensten Stimmen ausfällig werden. Ich denke: Aha, schön, die Wütenden sind da. Sie wollen etwas, weil es wehtut, täglich wehtut. Du wachst auf, und trotz deiner Empörung ist alles wie gestern. Letztlich ist Politisierung ja auch ein Moment, in dem Welt wehtut und man diesen Schmerz nicht akzeptieren will.
Plötzlich ist Schluss mit halbmüden Aussagen wie: „Interessant, das könnten wir mal näher beleuchten!“ Und dann wird es verschoben. Nein, jeden Tag bekommt man jetzt zu spüren, wie wenig die eigenen Erfahrungen wahrgenommen werden. Man darf plötzlich als Expertin in Talkshows, endet aber letztlich als Betroffene im Talk, obwohl man neben der Betroffenheit noch ganz viel Wissen erarbeitet hat, weil man eben journalistisch arbeitet, aber das Wissen wird neben dem Betroffensein nicht mehr wahrgenommen.
Erfahrungswissen als Makel
Ich habe da kein Problem damit, im Gegenteil: Das Erkenntnisinteresse wird von Erfahrungswissen genährt. Nur für Menschen mit Migrationsgeschichte wird es oft zum Makel. Nun lese ich zwischen den Zeilen vieler familienpolitischer Artikel eine unbändige Wut und Ungeduld heraus. Im Migrationsbereich hieße das schnell: Hier überschreiten Sie gerade die Schwelle zum Engagement. Sie sind Journalistin, nicht Aktivistin! Wenn Mütter und Väter in diesen Zeiten Journalist*innen sind und die Missstände persönlich beschreiben, sind sie jetzt Corona-Eltern-Aktivist*innen?
Ach woher, werden sie entgegnen – solche Texte sind gewiss kein Engagement! Die Haltung der Schreibenden erzählt lediglich von der Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitsfrage, die man eben aus erster Hand kennt. Bei Menschen mit Migrationgeschichte kommt hingegen schnell die Frage: „Haben Sie Zahlen für Ihre Behauptungen oder nur Erfahrungen?“ Es gibt nicht immer die Zahlen, die man braucht, weil Zahlen, die beim Argumentieren helfen würden, hierzulande teilweise nicht erhoben werden. Corona-Eltern haben jetzt zum ersten Mal dasselbe Problem: Die Zahlen, auf die sie sich stützen könnten, sind noch nicht belastbar genug, die Daten zu mager. Man kann die Beschwerden mit einer einfachen Rückfrage aushebeln: „Vielleicht ist das nur Ihr persönliches Empfinden?“
In vielen Bereichen, in denen Missstände für Menschen mit Migrationsgeschichte herrschen, gibt es keine belastbaren Daten. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird zum Beispiel nicht vermessen: Man möchte ja nicht rassistisch sein und zum Beispiel Moderator*innen der Ethnie nach sortieren, das ginge, gerade wegen der deutschen Vergangenheit, nicht. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen haben für den Print-Bereich diesen Missstand einmal behoben, und es zeigt sich: Nur 6 Prozent der Chefredakteur*innen haben einen Migrationshintergrund. Viele hätten das aber auch über einen persönlichen Zugang erzählen können, weil wir ständig Texte abliefern bei Menschen, die unsere Perspektiven eben nicht kennen und sie exotisieren, weil auch sie nicht aus der Homogenität ihrer Erlebniswelt herauskommen.
Die Pandemie macht auch Milieus zu Betroffenen, die es nicht gewohnt sind, in diesem Ausmaß persönlich betroffen zu sein. Darum hört man jetzt oft: Jedes Leid muss seinen Platz haben. Man darf die Härten des Lebens nicht gegeneinander aufwiegen. „Wohlstandsprobleme“ sei ein hässliches Wort. Dabei werden Probleme immerzu gegeneinander aufgewogen. Jene, die an der Macht sind, haben das Privileg, über die Relevanz von Themen zu entscheiden. Oder zum Beispiel darüber, in welcher Haltung man über Themen schreiben sollte. Sie entscheiden, ab wann ein Text „zu betroffen“ klingt, weil Emotion spürbar ist. Sie vergessen dabei zu oft den Erkenntnisgewinn durch diese Emotionen.
Corona ist eine Lehrzeit für den Journalismus. Die Medien lernen Neues über den Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen und selbstbewussten Akteuren aus der Wissenschaft. Sie könnten auch etwas Neues lernen über das Schreiben aus einer Situation heraus, von der man täglich betroffen ist, die einen unversöhnlich und beharrlich werden lässt, ohne gleich aktivistisch zu sein.
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