Jenseits von Mottram Hall: TV, Bier und ich
■ Als der Fernseher sie verließ: Drei Versuche, in die Welt zurückzukehren
„Was wärst du wert, wenn es Ablösesummen für Fans geben würde?“ will der rot-weiße Erfrischungsgetränkehersteller in diesen Tagen wissen. „Pah, mindestens soviel wie Klinsi“, werden sich die meisten denken. Schließlich haben sie, seit sie Beckenbauer von ihrem Teddybären zu unterscheiden wissen, kein Fußballgroßereignis verpaßt, fast jedes Länderspielergebnis im Kopf, und anstatt Schafe zu zählen, murmeln sie sich mit den verschiedensten WM- und EM-Aufstellungen in den Schlaf. Bis vor kurzem hätte
Das ist Nina KLÖCKNER
Mein Spieler: Davor Suker. Weil man sich an diesem Genie noch nicht sattgesehen hat (auch wenn er nicht so gut aussieht wie Patrik Berger).
Mein Team: Tschechien. Weil sie Italien geschlagen haben (und weil dort Patrik Berger spielt).
Europameister 96: Kroatien. Weil ich immer auf Geheimtips reinfalle.
ich mich mühelos in diese Kategorie Fans eingereiht. Doch etwas stellt meine zuweilen übertriebene Leidenschaft für die Kugel und seine Treter und das Verhältnis zu meinen Freunden und Bekannten auf eine äußerst harte Probe. Vor zwei Wochen schied mein geliebter Fernseher aus meinem Leben. Aus der Traum von der totalen dreiwöchigen Isolation. Nichts wurde aus der schon oft erprobten Dreieinigkeit: mein Fernseher, das Bier und ich. Wie gerne hätte ich unbeobachtet mit meinen Helden deliriumähnlich gejubelt und gefeiert oder heimlich meine Tränensäckchen erleichtert. Doch diesmal muß ich meine Anonymität aufgeben.
1. Versuch: Tschechien – Deutschland. EM-Studio bei Herbert mit anschließendem Grillen. Ehrfurchtsvoll habe ich mich beim Abträllern der Nationalhymnen auf dem Sofa niedergelassen. „Schau mal, der Zweite da, der singt ja gar nicht mit! Wer is'n das?“ Warum macht'n der das? Und als der Tscheche Patrik Berger das Grün betritt, ist es mit der Ruhe endgültig dahin. Die Frauen rücken kollektiv näher an das Medium heran, untermalt von dem ein oder anderen Knurren: „Wow, sieht der gut aus!“ Die anwesenden Männer können an Berger beim besten Willen nichts Außergewöhnliches finden und ziehen sich beleidigt in ihre Sofaecken zurück. Nach dem Schlußpfiff wird gegrillt, kein Wort über unsere genialen Jungs und Bertis clevere Taktik. Ich gehe früh, nüchtern und enttäuscht nach Hause.
2. Versuch: Italien – Tschechien. Biergarten mit Großbildleinwand. „Schau mal, Schatzi, der heißt Nemec! Hihi, heißt das nicht Deutsch? Stell' dir vor, bei uns würde ein Herr Österreich mitspielen!“ Sieht denn keiner, wie die Tschechen der ersten Sensation entgegendribbeln?
3. Versuch: Deutschland – Rußland. Bei Freunden in der WG. 77. Minute: Klinsmann hat ein unglaubliches Tor gemacht. Zufrieden lehne ich mich zurück, in freudiger Erwartung der fünf bis sieben Zeitlupen, aus allen Perspektiven, die mir gleich geboten werden. Nach der zweiten schaltet sich Annabel ein: „Der ist ja echt toll, der Klinsi, den möchte ich heiraten.“ Und nach der vierten: „Iiih, der kriegt ja hinten schon 'ne Glatze. Nee, dann lieber doch nicht.“
Mir reicht's. Noch heute werde ich mir ein Ticket nach England besorgen. Doch auch dort prophezeit mir der bereits erwähnte Erfrischungsgetränkehersteller ähnliche Qualen: „In einem kurzen Moment unbändiger Begeisterung könnte dich ein riesiger, fetter (wahrscheinlich auch heftigst transpirierender) Kerl in die Arme nehmen und leidenschaftlich küssen.“ Und was dann? „Wenn es ein tolles Tor war – küß ihn auch!“ Vielleicht sollte ich mir von dem Geld lieber einen neuen Fernseher kaufen.
Wenn ich diese EM überlebe, bin ich mindestens zwei Klinsis wert. Nina Klöckner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen