: Jenseits der Knabenblütenträume
Guy Hocquenghems beeindruckender Roman über Aids: „Eva“ ■ Von Tilman Krause
Schärft der nahe Tod die Sinne? Nehmen wir, bevor der große Schlaf kommt, die Welt noch einmal mit besonderer Aufmerksamkeit wahr? Oder dankt der Geist nicht vielmehr am Ende ab, geht großzügig über Widersprüche hinweg und gelangt zu scheinbaren Synthesen, weil diese den Abschied erleichtern? Diese Fragen drängen sich auf bei der Lektüre von Guy Hocquenghems Roman Eva. Es ist das Buch eines Sterbenden über das Sterben. Es handelt von Liebe und Zufall; von Drogen und Aids; von künstlicher Befruchtung und der Suche nach Herkunft und Identität.
Weit holt der Autor aus, um seinen Helden auf dieser Suche zu begleiten, und groß ist der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, den er dabei erhebt. Nicht umsonst hat er ihm den Namen des ersten Menschen (nach der Kabbala) gegeben: Adam Kadmon. Doch Adam Kadmon ist auch der ursprünglich androgyne, der vollständige Mensch, zu dem wir gemäß der Kabbala wieder werden sollen. Von nichts anderem handelt auch, seiner realistischen Erzählhaltung zum Trotz, dieser Roman: vom Streben nach Vollständigkeit und Ganzsein.
Das geschieht ganz konkret. Hocquenghem fabuliert so anschaulich, daß man die mythische Dimension dieses vielschichtigen Werks fast übersieht. Die Reise geht vom Himmel durch die Welt zur Hölle, führt über Paris und „la France profonde“ in die Antillen, nach Südamerika und Afrika. Der Autor zieht alle Register. Dieser Krimi über Kokain-Dealer, die sich gegenseitig umbringen, ist gleichzeiig eine Liebesgeschichte, die Züge einer Gesellschaftssatire trägt. Scharfgezeichnete Milieustudien aus Metropole und Provinz wechseln mit prächtigen Beschreibungen mächtiger Naturschauspiele. Randvoll mit Ereignissen und Gestalten ist Hocquenghems Buch und handelt doch letztlich nur von einem einzigen Menschen, der in seinem Selbst gefangen ist.
„Ich liebe niemanden, ich lebe auf mich selbst konzentriert“, sagt zu Beginn der vierzigjährige Ich-Erzähler. Er ist so abgebrüht, wie man als Homosexueller im Paris der achtziger Jahre nur sein kann. Geprägt durch die zynischen Verkehrsformen der Szene, aber auch geformt vom Elite-Bewußtsein des Absolventen einer „grande école“, darüber hinaus beeinflußt von den Lebensentwürfen der Achtundsechziger, genießt dieser urbane Intellektuelle sein Freiheit und Ungebundenheit. Sieben Bücher hat er bisher veröffentlicht. Er kennt Gott und die Welt, bewegt sich munter wie ein Fisch im Wasser zwischen bösmäuligen Literaten und taucht doch auch gern in die nächtlichen Jagdgründe der Liebe hinab.
Aber eines Tages erwacht er aus einem fieberhften Alptraum: Er lag in einem Krankenhaus, wo dunkle Gestalten ihm mit Exekution drohten. „Du bist verfault. Du hast niemals die Frau gekannt. Du bist unnütz“, sagen sie. An dieser Stelle beginnt die Serie von Vorwegnahmen und Vorausdeutungen, von bedeutungsvollen Zahlen und Zeichen, die das Buch durchziehen. Tatsächlich wird Adam schließlich in einem Krankenhaus sterben. Doch „die Frau“ wird er gekannt haben, und das Gefühl, unnütz gewesen zu sein, dürfte ihm genommen sein.
Mit dem Ausbrechen der tödlichen Krankheit Aids gesellt sich zum Adam die Eva. Die beiden verbindet alsbald eine „amour fou“, die alles in den Schatten stellt, was Adam bisher erlebt hat. Geheimnisvoll sind die Umstände ihres Kennenlernens. Rätselhaft für den männerliebenden Helden ist auch dieser Irrläufer seines Gefühls. Als er seiner zukünftigen Gefährtin zuerst gewahr wird, hält er sie darum auch für einen jungen Mann. Doch der erweist sich schließlich als Mädchen; schlimmer noch: als seine eigene Nichte. Als solche stellt sich das Mädchen jedenfalls vor.
Doch das ist nur die eine Ebene. Auch Eva erhält mythische Attribute, fungiert gleichermaßen als Lebensspenderin und Todesbotin. Sie erlöst Adam aus seiner Einsamkeit und pflegt ihn hingebungsvoll. Aber sie mißbraucht ihn auch als Kurier für ihre Drogenschiebereien, verführt ihn zu Dingen, die ein Aidskranker vermeiden müßte, beschleunigt seinen Tod.
Vor allem aber: Sie verkörpert— ebenso wie Aids — das zerstörerische Prinzip, das Adam Kadmon in sein Leben integrieren will. Dies ist das Hauptanliegen des Ich-Erzählers: Das Schreckliche soll als sinnhaft erscheinen. Dazu dient in erster Linie die Idee vom Weiterleben Adams in seinem Kind. In dem Moment, wo seine Todesagonie beginnt, gebiert Eva einen Sohn.
Spätestens hier stellt sich die Frage nach den gedanklichen Prämissen des Romans. Sicherlich ist er ein Stück Selbsttherapie, starb doch der Autor ein Jahr nach seiner Veröffentlichung ebenfalls an Aids. Allerdings sollte man Eva nicht als irrationalistische Regression eines trostbedürftigen Todeskandidaten abtun. Guy Hocquenghem ist lebenslang ein Suchender gewesen, zunächst eher in einem politisch-soziologischen, später in einem religiös-philosophischen Sinn. Davon zeugen seine Verständigungstexte zur Emanzipation der Homosexuellen in den siebziger Jahren ebenso wie seine Prosaarbeiten aus dem Jahrzehnt darauf. Eva, 1987 veröffentlicht, ist sein zweiter Roman, dem 1988 noch ein letzter folgte, Voyages et aventures du frère Angelo, wo sich ebenfalls das Schema eines Abenteuer- und Reiseromans mit den Motiven der Gottsuche verband.
Dieses Wandern zwischen den Welten trifft man nicht selten bei ehemaligen Achtundsechzigern. Auch bei Hocquenghem spiegelt es die Enttäuschung und Ernüchterung nach dem kurzen Sommer der Anarchie wider. Sein Nachdenken über das désir homsexuel“ — Das homosexuelle Verlangen, wie sein bedeutendstes theoretisches Werk in deutscher Übersetzung heißt, das 1974 bei Hanser herauskam —, seine Beschäftigung mit den sozialpsychologischen Grundlagen von gleichgeschlechtlichem Begehren also, war damals getragen von der Hoffnung auf eine gesamtgesellschaftliche „Befreiung des Mannes“. Von der Homosexualisierung der Gesellschaft versprach er sich seinerzeit, wie andere linke Schwule auch, die Abschaffung jeglicher Ausbeutung in der privaten Zweierbeziehung sowie eine glückhafte Geschlechtlichkeit schlechtin. Aber die Knabenblütenträume reiften nicht. Was jedoch blieb, war der Hunger nach Sinn. Wie viele, die damals umgetrieben wurden von der Suche nach dem „neuen Menschen“ in einer menschenwürdigeren Gesellschaft, stieß auch Hocquenghem mit der Zeit zu metaphysischen Fragestellungen vor, die vermutlich auch schon seinem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung zugrundegelegen hatten, doch zunächst verborgen blieben. Schließlich kam dergleichen den aufgeklärten Geistern im Gefolge von 68 „vorkritisch“ vor, mindestens aber unzeitgemäß. Doch Utopisten, die sie waren, setzten sie die Arbeit am Mythos fort. Und als die gesellschaftstheoretischen Planspiele sich immer schmerzlicher an der zähen Wirklichkeit zu reiben begannen, wuchs das Bedürfnis nach Rückversicherung. Gab es nicht einen utopischen „Glutkern“, wie Heiner Müller in bezug auf den Kommunismus sagt, einen „Glutkern“, der das utopische Potential über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende zu konservieren vermag? Nach ihm mußte man suchen, an ihm wollte man sich stärken, ihn galt es neu zu schmieden. Was lag also näher, als sich mit dem Christentum zu beschäftigen oder mit den uralten Mythen Tibets, Ägyptens oder der Juden? Als einen solchen Versuch utopischer Rückversicherung läßt sich Hocquenghems Geschichte von Adam Kadmon auch lesen.
Diese Sinnsuche unterscheidet Eva grundlgend von der Aids-Prosa eines anderen Franzosen, der hierzulande Hocquenghem inzwischen an Bekanntheit übertrifft: Hervé Guibert, der im Dezember 1991 der tödlichen Immunschwäche erlag und dessen Krankheitsprotokolle von einem gänzlich anderen Umgang mit der fatalen Krankheit zeugen. Während Hocquenghem nach der großen Synthese sucht, Welten ausmißt und die unterschiedlichsten Kulturen in seine verlöschende Existenz zu integrieren versucht, wird Guibert zum Meister der Beschränkung, der sich, darin übrigens sehr französisch, mit einer „Reise um das eigene Zimmer“ begnügt. Doch das eigentliche Interesse gilt seinem Körper und dessen Veränderungen. Ihnen widmet er sich mit Akribie und Detailversessenheit. Nur hier ist noch verbürgte Wirklichkeit. Alles, was darüber hinausgeht, fällt nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich. Mehr kann man sich durch Aids nicht überwältigen, nicht stärker davon auch mental bestimmen lassen, als der um eine Generation jüngere Guibert das tut. Hocquenghem hingegen bäumt sich auf, indem er aufbietet, was immer ihm Bildung und Wissen zur Verfügung stellen. Es wäre zu einfach, im Fall des Jüngeren von Kapitulation, im Fall des Älteren von Kampf zu sprechen. Aber über mehr Kreativität scheint doch Hocquenghem zu verfügen, gerade weil er sich nicht auf das Kreatürliche reduzieren lassen will.
Doch trotz seines Interesses für die Sinnangebote unterschiedlicher Wissensgebiete bleibt festzuhalten, daß der Autor nicht zum doktrinären Verkünder neuer Heilsgewißheit wurde. Auch mit der lammfrommen Abgeklärtheit esoterischer Erbauungsliteratur hat seine Prosa nichts gemein. In seinem unbefangenen Eklektizismus wirkt dieser unterhaltsame Aids-Roman gleichzeitig sehr postmodern. Und noch etwas bewahrt den Verfasser vor der naheliegenden Gefahr, bei seiner Sinnsuche eine neue Ideologie zu stiften: seine Skepsis. Eva, als Stück Rippe mit Adam identisch, kann auch als Chiffre für die Selbstverfallenheit Adams verstanden werden. Ist sie überhaupt eine eigenständige Figur? Manches spricht dafür, sie lediglich als Symbol für seine weibliche Hälfte zu sehen, als abgespaltenen Teil seines vollständig gedachten Selbst.
Auch die vielen Zwillings- und Doppelgänger-Metaphern mit ihren Anklängen an die deutsche Romantik, die den Roman durchziehen, weisen in diese Richtung. So bleibt bis zum Schluß unklar, ob Adam sich tatsächlich aus dem Zirkel seines Ichs befreit oder ob er mit Tiecks William Lovell verzweifelt ausrufen will: „Ich komme mir nur selbst entgegen in einer leeren Wüstenei.“
Diese Doppelbödigkeit bezeugt das artistische Niveau dieses irritierenden und spannenden Textes, den Frank Heibert in flüssiges, ja elegantes Deutsch übertragen hat. Man kann dieses Buch, das 'Le Monde‘ „endlich ein notwendiges“ genannt hat und das für den Prix Goncourt nominiert wurde, ohne weiteres als Unterhaltung genießen. Berühren einen jedoch die Fragen, die den Erzähler umtreiben, so wird man aber auch ins Nachdenken geraten: Woher kommen wir, wohin gehen wir?
Guy Hocquenghem: Eva. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Edition diá, St. Gallen/Berlin/Sao Paulo, 282 Seiten, 38 Mark.
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