Jeff Jarvis über neuen Journalismus: Liebt Eure Leser!
Leserkommentare verbessern den Journalismus, sagt Jeff Jarvis. Man müsse nur die Guten fördern. Ein Gespräch mit dem renommierten Journalistik-Professor über bessere Medien, Google und Datenschutz.
taz: Herr Jarvis, ist jede Meinungsäußerung im Netz wertvoll?
Jeff Jarvis: Das Problem mit Kommentaren ist, dass sie deine Community sprengen können.
Wie das?
Wenn da welche sind, die einfach ihre Meinung an die Wand schmieren und dann davonrennen, ohne auf Gegenargumente einzugehen, dann wird es kritisch. Die netten Leute machen dann irgendwann nicht mehr mit. So sieht's zurzeit aus mit Leserkommentaren.
Gibt es da denn überhaupt einen Ausweg? Oder ist das Web 2.0 gescheitert?
Doch doch! Es gibt einen Ausweg: Wir müssen endlich über die Guten sprechen. Wir sollten die Guten stärken, anstatt mit dem Holzhammer auf die Schlechten zu schlagen.
Jeff Jarvis ist Journalistik-Professor an der Universität von New York City. Er schreibt für den Guardian und auf buzzmachine.com, seinem Blog. Fast ausschließlich positive Erfahrungen mit Leserkommentaren machte er unter anderem, nachdem er über seinen Prostatakrebs und die daraus resultuierende Impotenz bloggte. Er schrieb das Buch "What would Google do?". Zum Weiterlesen empfiehlt Jarvis newsinnovation.com.
Wie kann das denn in der Praxis funktionieren?
Ich schreibe für den Guardian. Da gibt es sehr gute Ideen, um die Guten zu stärken. Zum Beispiel gibt es einen Wettbewerb um den „besten Leserkommentar“. Und: Lernt von Twitter! Wenn einer langweilig ist, ein Spammer oder ein Arschloch – ignoriere ihn! Du kannst ihn blocken und musst seine Kommentare nicht mehr lesen. Dieses Prinzip lässt sich auf andere Kommentarspalten übertragen. Das erfordert natürlich Energie: Man muss viel mehr schauen, wer die eigene Community ist und mit ihr gemeinsam daran arbeiten, Journalismus zu verbessern.
Journalismus zu verbessern durch Leserkommentare?
Aber ja! Sollte die Öffentlichkeit nicht auch daran mitwirken, Journalismus zu verbessern? Ich finde schon. Wenn etwas Falsches in einem Artikel steht, dann können Anmerkungen von Dritten sehr hilfreich sein. Vor allem, wenn man diese Information erhält, bevor der Artikel in Druck geht. Die Öffentlichkeit kann mithelfen. Die Journalisten müssen nur offen sein.
Geht es online nicht mehr anders?
Da geht es nicht um „online“, es geht um ein neues Geschäftsmodell. Wir können über das Netz zusammenarbeiten und Netzwerke knüpfen. Große Netzwerke, Big Media! Gerade für kleinere Zeitungen bietet das großartige Perspektiven. Sie können es sich nicht leisten, Lokalteile für überall anzubieten. Ihr könnt nicht jeden Kiez in Berlin oder jedes Land im Ausland abdecken – aber eure Blogger können das. Die hingegen profitieren von euch, indem ihr ihnen die Möglichkeit verschafft, Geld zu verdienen.
Wir sollen jetzt auch noch Blogger bezahlen?
Das funktioniert. Die Blogger produzieren ja Inhalte, Artikel. Damit macht eure Zeitung dann wieder mehr Profit. Gibt es hier in Berlin nicht viele arbeitslose Journalisten? Denen könnt ihr neue Perspektiven geben! Man muss die Leute natürlich ernst nehmen. Die bei der New York Times haben zuerst die Blogger-Artikel zu stark redigiert. Man wollte, dass sie zum Stil der New York Times passen. Das hat so nicht funktioniert.
Das Berufsbild des Journalisten würde sich dann ändern ...
Ja, er wird vom Artikelproduzenten zum Community-Manager. Aber Journalismus bleibt wichtig, und wir brauchen auch weiterhin Journalisten. Journalisten werden zu Lehrern für Medienkompetenz. Medienkompetenz bedeutet nicht, Medien zu konsumieren, sondern sie selbst zu produzieren. Die neue Rolle des Journalisten ist: Erschaffen, managen, rekrutieren.
Und auch die Form von Journalismus ändert sich. Das Produkt wird zum Prozess. Beispiel Wikipedia: Sie setzt sich schon aus Artikeln zusammen, diese werden aber laufend geändert. Ein Wikipedia-Artikel ist eine Momentaufnahme. Twitter hingegen ist ein Update-Fluss. Und man denke auch Google Wave, im Prinzip ein wunderbares Real-Time-Kollaborations-Tool.
Google Wave? Das können wir nicht benutzen, wir riskieren dann einen Image-Schaden.
Argh! Google ist nicht böse! Google war die einzige Kraft, die aufgestanden ist für die Menschen in China. Google Wave ist Open Source, jeder kann es sich auf seinem Server installieren. Niemand weiß mehr über das Netz als Google, keiner ist da kompetenter. Wenn du sagst: „Google ist böse“, hörst du dich an wie Axel Springer.
In Deutschland ist Google Street View auch ein großes Thema.
Ich sehe in dieser Diskussion eine Gefahr: Wenn wir Google verbieten, öffentlich einsehbare Gebäude zu fotografieren, dann werden Journalisten und Fotografen das auch irgendwann nicht mehr dürfen.
Wenn du das Private zum Normalfall erklärst, dann verlieren wir das Besondere, das dem Netz innewohnt: Interaktion. Du kannst nur mit anderen interagieren, wenn du öffentlich bist. Deswegen meine ich, dass gerade Journalisten das Öffentliche verteidigen müssen. Privatisierung ist Diebstahl! Wir brauchen eine Diskussion über Öffentlichkeit. Ich glaube, dass sich eine Denkweise durchsetzen wird, die das „nicht teilen“ von Information als egoistisch ansieht.
Die Zeit nach der Privatsphäre? Bringt es die Welt weiter, wenn wir alle beim Sex gefilmt werden?
Das ist damit nicht gemeint. Privatsphäre hat viel mit persönlichen Entscheidungen zu tun, mit Selbstbestimmung. Wir selbst sollten es sein, die die Kontrolle über unsere persönlichen Daten haben. Und über unsere unterschiedlichen Identitäten, mit denen wir im Netz auftreten. Das Problem an der Debatte ist: Es geht immer nur um Privatsphäre, um Datenschutz. Wenn wir aber Datenschutz als Normalfall haben, dann verlieren wir den Wert des Öffentlichen. Ich möchte beides in Einklang bringen.
Wer sollte denn dafür sorgen?
Die Leute selbst. Alles eine Frage der Medienkompetenz.
Wäre dafür denn überhaupt eine kritische Masse vorhanden?
Ich komme aus Amerika, wir reden eine Menge über uns selbst. (lacht).
Bei uns ist das anders …
Ja, bei euch liebt man den Datenschutz, geht aber in die Gemischtsauna. Das kann ich als Amerikaner nicht verstehen. Jedes Land ist anders. Das Schöne ist aber: Es gibt ein neues Land, nämlich das Internet. Gestern, während meines Vortrags, kommentierte einer: Meine Töchter leben mehr im Internet als in Deutschland.
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