Jazzfest Berlin als Streamingfestival: Luftbrücke mit HipHop und Hildegard
Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin als virtueller Streaming-Event. Sein trotziges Motto: „Now Is the Time“. Konzerte werden zugeschaltet.
Gelegentlich bricht auch im Corona-Alltag noch durch, wie absurd diese Realität ist, in der unsere Gegenwart abläuft. Zum Beispiel, wenn man im Gespräch bemerkt, dass es eben gar nicht normal ist, die Parameter „Seuche in New York City“ und „Bürgerkrieg in den USA“ in Betracht ziehen zu müssen, wenn man ein Jazzfestival in Berlin plant.
Dass man eigentlich über die Berliner Szene reden müsste, über die Rolle von Institutionen für die Entwicklung des Jazz und darüber, dass das bürgerlich geprägte Jazzfest Berlin diesmal im migrantisch und proletarisch geprägten Wedding stattfindet, weit weg von seiner aktuellen Heimat, dem Haus der Berliner Festspiele.
Das wird gerade renoviert und fällt als Konzertort aus, mental ist das Festival noch weiter weg von seiner früheren Heimstatt, der Berliner Philharmonie: „Das Jazzfest hat eine fast 60-jährige Geschichte. Wir ziehen ein ganzes Universum mit um. Einen Ortswechsel vorzunehmen ist gar nicht so einfach. Im Frühjahr waren wir in der Phase, in der man mit 100 Bällen jongliert. Und dann trat Corona ein.“
Die Unterhaltung mit der Leiterin des Jazzfests Berlin, Nadin Deventer, fand unmittelbar vor dem Beschluss statt, dass alle Kulturverstanstaltungen für vier weitere Wochen abgesagt werden müssen. Tagelang blieb unklar, ob das Jazzfest auf den verschiedenen Bühnen des „Silent Green“ alternativ digital ablaufen kann. Schließlich die ersehnte Nachricht aus dem Berliner Senat: Für Streaming-Angebote können Kulturorte trotz Lockdown genutzt werden. Das Jazzfest Berlin 2020 unter dem Jetzt-erst-recht-Motto „Now Is the Time“ findet also statt – nur eben für ein Publikum vor den Bildschirmen statt live am Ort.
Das Krisenjahr 2020 – aber das Festival absagen? „Nie“, sagt Deventer. „Das ist die Verpflichtung der Institutionen, weil wir so privilegiert sind, wirtschaftlich. Bisher sind unsere Jobs noch nicht gefährdet, wir können ein Festival denken, ohne mit Eintrittseinnahmen zu kalkulieren. Ich sehe uns gerade in der Verpflichtung gegenüber den Kolleg*innen in der Technik und Infrastruktur und natürlich den Künstler:innen, das Spiel so lange am Laufen zu halten, wie es geht.“
Bis Sonntag 8. November, www.berlinerfestspiele.de
Die internationale Vernetzung des Jazzfests half dabei, es neu zu denken, die eigene Verflechtung mit den öffentlich-rechtlichen Radiostationen entfaltete sich produktiv zu dem, was nun die dezentrale „Jazzfest Berlin Radio Edition“ ist – eines der Standbeine des Festivals, mit regional von acht Landesrundfunkanstalten eingespielten Konzerten, etwa der Sängerin Natalia Mateo mit ihrer Hommage an Bill Withers.
Szenarien im Papierkorb
„Wir haben von März bis November zig Szenarien entwickelt, die alle funktioniert hätten, aber der Verlauf der Pandemie war so aberwitzig, dass sie im Papierkorb gelandet sind“, seufzt Deventer. Zu den tragenden Elementen der nun umgesetzten Version gehört, das Jazzfest um eine Partnerstadt zu erweitern, die nicht nur eine lebendige Jazzszene bietet, sondern auch zu den am härtesten von Covid getroffenen Orten zählt: Die Brücke New York–Berlin, auch abseits des Jazz musikalisch längst etabliert, leidet unter den Beschränkungen. Ein internationales Jazzfest, das nur schwer mit der Einreise internationaler Künstler*innen rechnen kann, sowieso.
Ein Teil des Festivals war daher ohnehin digital erdacht – live übertragene Konzerte im renommierten, aber leeren New Yorker Club Roulette sollen mit den Konzerten auf den Bühnen des Silent Green in Dialog treten, in drei künstlerischen Tandems.
1978 gegründet, spielten bei der Einweihung der heutigen Spielstätte des „Roulette“ unter anderem Laurie Anderson und John Zorn, nun treten für das Jazzfest etwa die Saxofonistin Lakecia Benjamin, die bei der Amtseinführung Barack Obamas 2008 spielte, und das New Trio des Pianisten Craig Taborn auf, der als einer der Hauptvertreter der Fusion von Jazz und Electronica gilt. „Auch auf Berliner Seite spielen viele US-Künstler:innen“, so Deventer. „Es ziehen immer mehr nach Berlin, weil die Situation in Amerika immer schwieriger wird.“
Schubser für die Szene
Now is the time: Natürlich ist die Situation für die Jazzszene auch ein Schubser. Wie jede Krise jenen Chancen bietet, die schon zuvor privilegiert waren, bietet auch der digitale Umbau des Jazzfests Möglichkeiten in Bezug auf Zugänge und Inhalte. Sind die Reisen großer Combos angesichts des Klimawandels zeitgemäß? Wie kann das Lokale mit dem Globalen nachhaltiger verzahnt werden? Die Situation lässt solche Fragen konkreter beantworten.
Klar ist aber auch: Jazz und körperliche Distanz sind kein match made in heaven. Der enge Keller, das stickige Nebeneinander und das Durcheinanderpalavern gehören zur Musik wie das Saxofon. Das hat das Jazzfest Berlin in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen, mit Konzerten in Clubs außerhalb der Komfortzone, mit der Auflösung der Bühnensituation im Theatersaal der Festspiele. Ist der digitale Raum als intimer Ort eher eine Fortsetzung dieses Gedankens oder sein Gegenteil?
Erste Eindrücke dieser Digitalversion lassen sich am Donnerstag Abend gewinnen. Dann steigt das Festival mit einer Performance des Improvisationskünstlers Joel Grip ein: Sie erkundet die Kunstsprache „Ap Lla“ in rituellen Zeremonien und mit Anklängen an HipHop und Hildegard von Bingen.
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