Jahresrückblick: Momente des Hasses
Abseits des normalen Stadttheaterbetriebs gab es 2016 im Norden viele bizarre, emotionale und verstörende Momente. Ein ganz und gar subjektiver Blick
Es ist einer der Räume, die wir im Fernsehen dieses Jahr oft gesehen haben: eine riesige Turnhalle. Man riecht förmlich den Schweiß von Generationen, erinnert sich an die endlosen Stunden im Sportunterricht. Die Turnhalle auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg ist eine Flüchtlingsunterkunft – für Europäer. Die trippeln in „Die Wehleider“ zu „Freude schöner Götterfunken“ in den Saal. Bewacht werden sie von arabisch aussehenden Ordnern, die mit abschätzigen Blicken auf die Geflohenen des gefallenen Kontinents herabschauen. Die haben nichts mehr außer ihrer Kleidung, die daran erinnert, wer sie einmal waren: eine italienische Operndiva im Abendkleid, ein Bänker im Anzug, eine junge Frau in einer pinkfarbenen Leggings.
Auch wenn der Abend nur aus dieser einen Idee besteht, bleibt das Setting, das Christoph Marthaler mit seiner Bühnenbildnerin Anna Viebrock entworfen hat, einer der eindrücklichsten Theaterräume dieses Jahres. Entlarvend die abschätzigen Blicke und die Demütigung, wenn das Personal die Geflohenen zur Beschäftigungstherapie lädt: gemeinsam Sport machen und singen – jetzt bloß kein falscher Stolz: Das alte Europa spiegelt sich selbst.
Recherche am Unort
Während das Hamburger Schauspielhaus so den Blick auf unseren Umgang mit den Menschen schärft, die zu uns kommen, schaut das Schauspiel Hannover in „Bis hierher lief’s noch ganz gut“ auf die vergessenen Monumente einer Stadtgesellschaft. In einer Mülltonne der Abfallbeseitigung Hannover paddeln zwei Männer auf der Leine ins Herz der Finsternis der wohlhabenden Großstadt. Am Canarisweg steht eine der gescheiterten Betonburgen, die es so ähnlich in fast jeder deutschen Stadt gibt. Vollständig umschlossen von Autobahnen leben hier die Abgehängten in einer Bausünde der Siebzigerjahre. Wer hier aufwächst, der beginnt sein Leben mit Handycap.
Die junge Regisseurin Ulrike Günther hat mehrere Monate dort recherchiert. Das Ergebnis ist nicht dokumentarisches Betroffenheitstheater, sondern ein absurder Trip. Ein Sozialarbeiter in dem abgehängten Viertel hat sich mit den Bewohnern eingelassen. Nackt und mit langen, zotteligen Haaren führt er als Jesus-Verschnitt ein Regime mit Zuckerbrot und Peitsche.
Die Zuschauer sitzen auf zwei Tribünen im Ballhof gegenüber – und erkennen durch die absurde Verzerrung die traurige Realität. Um das Herz der Finsternis zu erreichen, muss man nicht in den kongolesischen Dschungel reisen – es reicht ein Ausflug an die Unorte, die unsere Gesellschaft hervorbringt. Unorte, an denen Hass entsteht.
Wie der aussieht, brachten die beiden Performerinnen der tschechischen Gruppe T.I.T.S. im Rahmen des diesjährigen Fast-Forward-Festivals am Staatstheater Braunschweig auf die Bühne. In „Forced Beauty“ wird das intensive Gefühl in eine Installation verwandelt, die Angst macht – und noch lange nachwirkt.
Hass als Selbstzweck
Zwei Frauen quälen sich in einem dunklen Raum: mit Worten, Körpereinsatz und Gegenständen. Hass-Botschaften aus den sozialen Netzwerken des Internets flimmern über die Bildschirme, während sich beide immer weiter entmenschlichen. Zum Schluss sind sie zwei nackte, blutbesudelte Golems mit maskenartigen, verzerrten Gesichtern geworden, die trotzdem nicht aufhören können.
Auf Plastikfolien geht ihr Martyrium weiter – ineinander verknotet rollen sie durch den Dreck. Das Hassen des Anderen ist zum lebenserhaltenden Selbstzweck geworden, in einer Performance, die jenseits der üblichen Kopfarbeit geballte Emotionen auf der Bühne entstehen lässt – und vielleicht gerade deshalb von der Festival-Jury nicht ausgezeichnet worden ist.
Das komplette Gegenteil zu der besudelten und vor Körpersäften triefenden Braunschweiger Bühne ist beim diesjährigen Internationalen Kampnagel-Sommerfestival zu bestaunen. In der japanischen Pop-Oper „The End“ bleibt ein steriler, weißer Raum 70 Minuten lang menschenleer. Denn der Star des Abends hat keinen Körper. Der japanische Komponist Keichiiro Shibuya hat eine Oper für den virtuellen Youtube-Star Hatsune Miku geschrieben: eine junge Frau aus Pixeln, die mit großen Augen und blauen Haaren ein Millionenpublikum begeistert.
Gefangen im Theater
Auf der Bühne klagt das Geschöpf in dreidimensionalen Projektionen sein Leid: „Ich hätte so gerne einen Körper.“ Und das kleine Wunder funktioniert. Im Publikum entsteht Mitleid für das Pixelgeschöpf, das verzweifelt um ein echtes Leben ringt – und trotzdem nicht verhindern kann, dass zum Ende die Beamer verlöschen und es keinen Ausweg gibt – aus der virtuellen Theater-Welt.
Einer Welt, in der auch Shakespeares „Richard III.“ seit vierhundert Jahren gefangen ist. Regisseur Antú Romero Nunes zeigt den Thriller um den hinkenden, fiesen König im Hamburger Thalia-Theater in einer Inszenierung, die in die Vergangenheit weist. Zwischen dunklen Leichentüchern treten Shakespeares Figuren in einem elisabethanischen Maskenspiel auf. Nur Jörg Pohl als Richard ist demaskiert und treibt mit den anwesenden Königen, Lords und Frauen ein fieses Spiel.
Die Skrupellosigkeit macht ihn sexy – da braucht es gar keine Gewalt, um seine spätere Frau Anne zu verführen. Im Gegenteil: Sie reißt dem sympathischen Monster die Kleider vom Leib, während wir mit viel Sympathie für das Böse das Spiel verfolgen – bis wir plötzlich ganz direkt in unseren bequemen Sesseln angesprochen werden.
Ganz vorn an der Rampe spricht Richard von Menschen aus dem Süden, die zu uns kommen, uns überrennen wollen. Da müsse man sich doch schützen, sagt er, böse lächelnd – und wird so zu einem gespenstischen Zerrbild von Politikern heutiger Tage. Während sich nur wenige hundert Meter entfernt, im Deutschen Schauspielhaus, das europäische Publikum bereits auf der Flucht befindet.
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