Von Anspruch und Wirklichkeit

Beim Jahresauftakt der Linkspartei fordert ihr Präsidentschaftskandidat Gerhard Trabert Widerstand gegen unsoziale Politik. Hennig-Wellsow sieht ihre Partei an kritischem Punkt

„Wir müssen Haltung einnehmen und handeln.“ Gerhard Traberts Appell beim Linken-Jahresauftakt Foto: Fo­to:­ Kay Nietfeld/dpa

Von Pascal Beucker

Der politische Jahresauftakt der Linkspartei beginnt erst einmal mit einer Panne, wie bezeichnend. Aus Mainz zugeschaltet, hat Gerhard Trabert zwar einiges zu sagen, doch zu hören ist der 65-jährige Sozialmediziner die erste halbe Minute nicht. Immerhin ist dann das Malheur behoben. Wenn sich die vielen anderen Probleme der Linkspartei nur auch so schnell und einfach lösen ließen.

Die Nominierung des parteilosen Trabert als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vor einer Woche war eine Entscheidung, die der zerzausten Partei kaum mehr zuzutrauen war. Als „Botschafter unserer Vision der unteilbaren Solidarität“ präsentiert ihn am Samstag Linken-Vorständlerin Melanie Wery-Sims, die gemeinsam mit Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler die coronabedingt rein digitale Veranstaltung aus dem Karl-Liebknecht-Haus moderiert.

Soziale Gerechtigkeit sei „die Bewährungsprobe einer jeden freiheitlichen Demokratie“, sagt Trabert in seiner Rede. „Wir müssen hinschauen, wir müssen Haltung einnehmen und wir müssen handeln“, fordert der Arzt, der seit Jahrzehnten in der Gesundheitsversorgung von Obdachlosen und Geflüchteten arbeitet. Er kandidiere „für die Menschen, die in unserer Gesellschaft zu wenig gehört und gesehen werden“. Gegen ungerechte und unsoziale Politik müsse „noch vehementer Widerstand“ geleistet werden. „Und wir müssen in Solidarität mit den Menschen handeln.“

Eindringlich ruft Trabert zu mehr Sprachsensibilität auf. Er appelliert, „niemals von sozial schwachen Menschen zu reden“, wenn einkommensschwache, sozial benachteiligte Menschen gemeint seien. Denn ihnen müsse mit Respekt und Würde begegnet werden. „Sozial schwach“ sei nicht die alleinerziehende Mutter, sondern „der Unternehmer, der unter Umgehung der Mindestlöhne in Bang­la­desch seine Produkte produzieren lässt“.

Nachdem Trabert Argumente dafür geliefert hat, warum es einer ausstrahlungskräftigen Partei links der Ampelkoalition bedarf, gibt die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow einen Einblick, warum es der Linken genau an dieser Ausstrahlungskraft fehlt. Die Partei sei nicht erst seit dem Debakel bei der Bundestagswahl, bei der nur knapp dank dreier Direktmandate der Wiedereinzug ins Parlament gelang, in einer tiefen Krise. „Der Kern dieser Krise ist die Unfähigkeit, die vielfältigen Blockaden und Formelkompromisse zu lösen, die eine pluralistische Partei wie von selbst produziert“, sagt Hennig-Wellsow.

Erforderlich seien „mehr solidarische Selbstkritik und mehr Debatte“, wobei „ehrlich, aber pfleglich“ miteinander umgegangen werden sollte. Genau daran mangelt es allerdings. „Sprechen wir uns also zuallererst nicht gegenseitig Moral und Würde ab“, fordert die 44-jährige Thüringerin. Scharf kritisiert sie „diejenigen, die jetzt meinen, nur allein noch mehr von ihrem eigenen Rechthaben bringt die Linke wieder nach vorne“.

Hennig-Wellsows eindringliche Warnung: „Eine Politik der verschränkten Arme, eine Wir-wissen-es-Haltung mag uns noch selbst eine gewisse Zeit mehr schlecht als recht ernähren, aber als Partei haben wir mit selbstgefälligen Gewissheiten weder eine Zukunft noch strahlen wir damit eine Neugierde aus.“

Wie schwer der Linkspartei solidarische Umgangsformen untereinander fallen, zeigt der Parteiaustritt der früheren DDR-Wirtschaftsministerin und PDS-Bundestagsabgeordneten Christa Luft. Es sorge bei ihr für „großen Unmut“, dass nach dem „vollkommen missratenen“ Bundestagswahlkampf immer noch nicht der „Anflug einer Analyse einschließlich Selbstkritik zur Aufklärung der Ursachen des Scheiterns“ vorliege, schreibt die 84-Jährige in ihrem Austrittsschreiben. In der Partei gebe es „keine Debattenkultur und keine Mitgliederpflege“. Luft beklagt „unnötige, belastende, oft rechthaberische Auseinandersetzungen“. Deutliche, bittere Worte.

„Wir können nicht weitermachen wie bisher“, wird auch die Co-Vorsitzende Janine Wissler am Samstag deutlich. „Wir brauchen eine Erneuerung unseres Gründungskonsenses.“ Die Linke werde „gebraucht als moderne Gerechtigkeitspartei“. Das jedoch ist zurzeit nichts weiter als ein hehrer Anspruch, der wenig mit ihrem realen Zustand zu tun hat.